Prolog
Seth – 10 Jahre
Damals
Seth war zu einer abendlichen Müllrunde im Waisenhaus verdonnert worden. Beim Frühstück hatte er einem Kind das Müsli ausgeschüttet, weil der Junge ihm nicht seinen Kakao überlassen hatte.
Der kleine Scheißer.
Seth schätzte ihn auf vielleicht sechs Jahre. Er hatte so laut gebrüllt, dass es der ganze Speisesaal mitbekommen hatte.
Zur Strafe hatte Seth sein trockenes Brot allein in einer Ecke verspeisen müssen. Es war ihm nur recht gewesen. Und die Müllrunde am Abend nahm er in Kauf. Die anderen Kinder aus dem Heim fanden es furchtbar, vor allem, weil man auch die Säcke aus dem Badezimmer der Mädchen aus dem zweiten Stock entsorgen musste – den Zwölf- bis Sechzehnjährigen. Die Jungen vom Trakt gegenüber sagten Bloody Mary dazu. Er kapierte den Witz nicht und befand, er hatte schon schlimmere Strafen verbüßt.
Auf dem Rückweg kam er an der angelehnten Tür des Heimleiters vorbei.
»Ich muss mit Ihnen über unser Sorgenkind reden, Pastor«, hörte er Schwester Filippa gedämpft sagen.
Seth mochte Filippa nicht sonderlich. Sie war eine der älteren Nonnen und sehr streng. Ihre Strafen waren bei allen gefürchtet. Hätte sie an diesem Morgen Dienst im Speisesaal gehabt, wäre er nicht mit einer Scheibe trocken Brot und einer Müllrunde davongekommen.
Oder wurde man so, wenn man jahrelang in dieser scheußlichen Kluft herumlief? Alle wussten außerdem, dass sie scharf auf die Stelle von Pastor Frank war. Der alte Mann, der zunehmend gebrechlich wurde, gehörte zu den Guten in diesem Laden. Es wäre schade, wenn er in Rente gehen würde, und Seth hoffte, dass er noch ein paar Jahre blieb.
»Geht es schon wieder um Seth?«, fragte Frank seufzend, und im Geiste sah Seth, wie er sich dabei müde über die Halbglatze rieb. Das tat er auch, wenn Seth vor ihm saß und sie eines ihrer »Gespräche« führten, weil er Mist gebaut hatte: das Klo verstopft, im Keller gekokelt, im Kiosk geklaut …
»Wen hat er diesmal beklaut, verprügelt oder beleidigt?«
»Nein, es geht nicht um Seth. Um unseren Neuzugang Victoria. Ich bekomme einfach keinen Zugang zu ihr«, fuhr Filippa fort, und ihre Kutte raschelte.
Seth hätte am liebsten kurz ungläubig aufgelacht. So wenig liebevoll wie Filippa mit den Einwohnern des Waisenhauses umging, wunderte es Seth nicht, dass sie keine Bindung aufbaute. Bei ihr hieß es spuren oder Strafe. Wenn sie den Kleinen vorlas, saß keiner auf ihrem Schoß. Wenn sich jemand verletzte, würde sie nie auf die Idee kommen, ihn in den Arm zu nehmen. Nicht wie Rose, an der hingen vor allem die Kleinsten. Da die Jüngeren jedoch die Ersten waren, die ein neues Zuhause fanden, weilten diese Momente nur kurz. Rose war lieb. Es gab nur wenige Menschen, denen Seth dieses Kompliment machte.
Ihm war aufgefallen, dass sich Filippa um das neue Mädchen mehr bemühte als um andere. Warum? Keine Ahnung.
»Sie ist uns allen unheimlich«, hörte er Filippa sagen, was Seths Gedanken in die Gegenwart zurücklenkte. »In ihrem schmalen Gesicht sehen ihre dunklen Augen aus wie die eines Dämons. Als sei keine Seele mehr darin. Dann dieses Schweigen. Selbst Rose dringt nicht zu ihr durch und das schon seit Wochen. Wir machen uns große Sorgen. Außerdem isst sie nicht.«
Hatte er Filippa jemals besorgt gehört?
»Geben Sie ihr noch ein wenig Zeit, Filippa. Die Kleine ist erst sieben Jahre alt. Sie wissen, dass sie zu uns kam, nachdem ihre Eltern umgekommen sind und sie aus den sektenähnlichen Verhältnissen geholt worden war, in denen ihre Familie zuvor lebte. Wir wissen nicht, was sie dort vielleicht alles erlebt hat.« Franks Tonfall klang endgültig. Damit war das Gespräch beendet.
Seth bemerkte das Rascheln von Papier und das Klacken der Holzkette, die wie ein Gürtel um die Tracht der Nonnen gelegt war und das Kreuz hielt, das daran baumelte. Hastig machte er sich aus dem Staub. Es wäre besser, sich nicht von Filippa erwischen zu lassen, wie er lauschte.
Er beendete seine Säuberungsrunde und schloss die Eingangstür ab. Draußen war es dunkel, und über das Kinderheim senkte sich Ruhe, wie immer kurz vor dem Zubettgehen. Wie bei einem Bienenvolk, das sich für den Winter in seinem Bienenstock einnistete. Die Betriebsamkeit war vorbei. Das stete Ein- und Ausfliegen hatte ein Ende. Alle sammelten sich, um die Königin zu wärmen – oder sich selbst, in diesen nackten, kalten Räumen, die kein Zuhause boten.
Jeder war in seinem Zimmer für sich, sofern man wie Seth das Glück hatte, ein Einzelzimmer zu ergattern. Er schätzte es, allein zu sein, auch wenn ihn gelegentlich die Wände anstarrten, als hätten sie Augen. Und seine Gedanken dann lauter schrien, um die Stille, die auf seine Ohren drückte, zu übertönen.
Im Heim war es immer laut.
Lärm.
Noch etwas, das er nicht mochte.
Aber eine gespenstische Ruhe war auch nie gut.
Seth hatte gelernt, dass Stille bedrohlich sein konnte. Wie der Moment vor einem Schlag oder ein anklagendes Schweigen vor einem Tadel. Oder die Einsamkeit in einem düsteren Kellerraum, in den er zur Strafe gesperrt worden war. Wo er die ganze Nacht ohne Licht und Fluchtmöglichkeit hatte ausharren müssen … Und gegen den Druck in seinem Brustkorb angekämpft hatte, als wollte ein lauter Schrei aus ihm herausbrechen.
Nein, Stille war auch nicht gut.
Er wollte die Treppe nach oben betreten, um in sein Zimmer zu gehen, als er unter dem Treppenabsatz etwas glitzern sah.
Zögerlich trat er die abgetretenen Stufen wieder hinab, die bei jedem Schritt knarzten. Er umrundete das abgegriffene Geländer mit der Holzkugel am oberen Ende, an deren Rückseite jemand ein Fuck You eingeritzt hatte. Die Nonnen mussten das bisher übersehen haben, sonst wäre es längst entfernt worden. Er fuhr mit seinem Daumen kurz darüber und lugte in die finstere Ecke unterhalb des Absatzes hinein.
Zusammengekauert saß ein kleines Mädchen in der Nische. Jenes, das eben Gesprächsinhalt gewesen war – Victoria.
Sie war winzig. Die Kleidung schlotterte um ihre Schultern, als sei sie ihr zwei Nummern zu groß – ein schreckliches braunes Kleid mit Rüschen an den Ärmeln, dessen Farbe ihn an Hundekacke erinnerte. Mit Sicherheit kam es aus einem der Spendensäcke, die hier abgegeben wurden, von Leuten, denen die Klamotten für ihre Kinder nicht mehr gut genug waren.
Victorias blasse Haut leuchtete in der Schwärze des Schattens, in dem sie saß. Ebenso wie ihr blondes Haar, das im Licht der trüben Glühbirne, die in der Eingangshalle über ihnen glomm, einen silbrigen Schimmer ausstrahlte.
Filippa hatte recht. Victorias Augen waren groß. Aber Seth sah darin keine Leere, keinen Dämon, sondern eine Seelenverwandte, der der Kummer aus allen Poren zu strömen schien. Er wollte das nicht spüren, als käme es aus seinem eigenen Körper. Als wäre es sein Kummer ...
Am liebsten fühlte er nichts.
»Was sitzt du hier rum?«, fragte er schroff, weil er gelernt hatte, dass Schroffheit einem die Menschen vom Leib hielt und niemandem zeigte, wie verletzlich man war.
Keine Antwort.
»Du wirst Ärger bekommen, wenn gleich Schlafenszeit ist, du fehlst und sie dich nicht finden können.«
Sein Nacken rötete sich, und sein Pulsschlag ging schneller. Wie von selbst ballten sich seine Hände zu Fäusten. Wut war ein gutes Gefühl, auch wenn sie ihn auslaugte. Aber Wut machte warm, machte, dass sein Herz schlug und er sich lebendiger fühlte. Nicht wie Angst. Angst war fürchterlich kalt und kroch einem den Nacken hinauf, wenn man es am wenigsten brauchte. Lähmte einen, machte einen stumm und hilflos. Seth wusste, mit Wut konnte er Angst vertreiben. Deshalb beschwor er sie manchmal herauf.
Nichts zu empfinden oder diese Wut waren die einzigen beiden Dinge, die er akzeptierte.
Ein merkwürdiges Geräusch rumorte aus Victorias Richtung und ließ ihn innehalten: Ein helles Brummen.
Er brauchte einen Moment, bis er kapierte, was es war.
Ihr Magen knurrte.
Richtig, Filippa hatte gesagt, dass das Mädchen nicht aß.
Wir wissen nicht, was sie dort alles erlebt hat …
Der rote Nebel in seinem Sichtfeld löste sich auf, ebenso wie seine geballten Fäuste. Ein Klumpen sackte in seinen Magen, und seine Kehle zog sich zu.
Keines der Kinder hier hatte Eltern. Er kannte seine nicht einmal. Aber für jemanden, der mal welche gehabt hatte, musste es hier noch tausendmal schlimmer sein. Wo sie scheinbar auch vom Rest ihrer Familie ferngehalten wurde.
Einen Rest seiner Familie gab es nicht.
Seth hatte niemanden. Nur sich selbst.
Er setzte sich neben sie. Nicht zu nah, denn er mochte es auch nicht, wenn andere das taten. Vielleicht ging es ihr genauso. Womöglich hatte sie dann auch ein Summen unter der Haut, als würde sich ein Schwarm Wespen zum Angriff bereit machen.
Langsam griff er in die Tasche seines Hoodies und zog ein lädiertes Twix hervor. Durch seine Körperwärme war es ein wenig angeschmolzen. Keine Ahnung, wie lang das Ding schon in dem Pulli war. Seth hatte es vor Wochen im Kiosk mitgehen lassen. Er hatte bisher keine Lust darauf gehabt.
Wortlos hielt er es ihr hin.
Ihre riesigen Augen schwenkten zwischen seinem Gesicht und dem Twix hin und her.
Einmal.
Zweimal.
Dreimal.
Dann streckte sie ihre kleine zarte Hand aus, nahm es zügig, ohne mit ihren Fingern seine zu berühren, und versteckte es in ihrem Schoß.
Stumm saßen sie eine Weile beisammen.
Bis Seth flüsterte: »Wenn dir hier einer dumm kommt, sag es mir, klar?«
Victorias Augen lagen tief in den Höhlen über ihren eingefallenen Wangen und blickten ihn unsicher an. Misstrauisch musterte sie seine harten Gesichtszüge und den verkniffenen Mund.
Dann senkte sie den Kopf zu einem Nicken.
1
Seth
Heute
In Gedanken mit dem letzten Mandanten beschäftigt, brachte Seth seine Kaffeetasse in die Betriebsküche. Die Spülmaschine war bereits sehr voll, daher holte er einen Tab unter der Spüle heraus und warf das Eco-Programm an. Hinter ihm trat Peter, einer seiner Anwaltskollegen, ein. Der Typ sah immer aus, als könnte er eine Woche Schlaf gebrauchen. Darauf ließen nicht nur sein ungesunder, gräulich anmutender Teint schließen, sondern auch die tiefblauen Ringe unter den Augen. Als hätte er sich zu oft die Haare gerauft, zierten ausgeprägte Geheimratsecken seine Stirn. Seth erinnerte er an Gru aus Ich einfach unverbesserlich.
Peter zog einen Blister aus seiner Jacketttasche, drückte eine Tablette heraus und schob sie sich in den Mund. Mit kleinen Kaubewegungen zermahlte er sie, während er den Espressoknopf der Kaffeemaschine betätigte. Sein zitternder Finger gab Seth den Hinweis, dass er genug davon intus hatte, aber es war nicht seine Sache.
»O Mann, meine Frau macht mich fertig.« Während er mit einer Hand den Blister verstaute, fuhr Peter sich mit der anderen durch sein lichtes Haar.
»Wieso?«, fragte Seth, obwohl er versuchte, persönlichen Gesprächen im Büro aus dem Weg zu gehen.
Nein. Das stimmte nicht.
Er ging jedweden persönlichen Gesprächen aus dem Weg. Auch außerhalb des Büros.
Es würde jedoch unhöflich rüberkommen, wenn er nicht nachgefragt hätte. Außerdem wollte er in der Kanzlei, in der er erst seit kurzem arbeitete und sich wohlfühlte, nicht für Tratsch sorgen, weil er sich unnahbar gab.
Peter trank sein Heißgetränk in einem Zug, bevor er die Tasse in die Spüle stellte und antwortete: »Ist gestern schon wieder mit ihrer Freundin shoppen gegangen und hat die Hälfte meines Monatsgehaltes ausgegeben, während ich daheim war und die Kinder hüten musste.«
Wie auf Kommando läutete Peters Smartphone. Das Bild einer hübschen Blondine und die Bezeichnung »Schatz« deuteten darauf hin, dass es sich um besagte Ehefrau handelte. Peter stöhnte und verdrehte seine Augen, bevor er mit einem geheuchelten: »Hi Liebes, wie schön, dass du anrufst«, abhob.
Seth wollte sich verkrümeln, war aber nicht schnell genug.
»Nein, Schatz, heute wird es echt spät. Ja, ja, es tut mir leid. Überstunden. Der Chef hasst mich eben. Küss die Kinder von mir!«
Mit einem kurzen Winken in Seths Richtung rauschte Peter ab. Nicht in sein Büro, wie Seth bemerkte, sondern in den Fahrstuhl nach unten.
Hatte wahrscheinlich ein Date mit seiner Affäre.
Er zuckte innerlich mit den Schultern. Nicht mein Bier.
Gleichwohl drängte sich ihm der Gedanke auf, dass definitiv Peter und nicht seine Frau der Arsch in der Familie war.
Seine Krawatte lösend, schloss er das Büro ab und nickte der Empfangsdame seiner Etage zur Verabschiedung zu, bevor er sich ebenfalls nach unten begab.
Der Bürokomplex der Kanzlei, in der er nun tätig war, lag an der Wall Street. Heute trat er zeitiger als üblich den Feierabend an, da er noch einen Termin mit einem Kumpel wahrnehmen musste. Es herrschte Betrieb im Gebäude und auf den Straßen, wobei New York bekanntlich niemals schlief. Selbst wenn er mitten in der Nacht das Haus verließ, begegnete er einer Vielzahl Menschen. Exakt das, was er wollte: In ihnen untergehen – in ihrer Namenlosigkeit.
Seth befand sich in Weiterbildung zum Fachanwalt für Familienrecht und war dankbar, die Stelle bei Mitchell und Partner ergattert zu haben. James Mitchell, sein Boss, war entgegen Peters Aussage, kein Sklaventreiber und ein Mann, den Seth über alle Maßen schätzte. Zwar hatte er, bezogen auf seine Ausbildung, nur wenig mit ihm zu tun, immerhin war Mitchell ein reiner Scheidungsanwalt und das Aushängeschild der Kanzlei. Aber er bewunderte den Mann für seine Eloquenz vor Gericht und seine Prinzipientreue. Staranwalt hin oder her – Mitchell suchte sich seine Fälle nicht nach dem größten Gehaltsscheck, sondern nach Sympathien aus. Was er selbstverständlich nur konnte, weil er durch seine prominenten Fälle, die er medienwirksam vertreten hatte, für ein volles Bankkonto gesorgt hatte. Das würde Seth dem Mann nicht verübeln. Immerhin war ein volles Bankkonto das, was einem den Lebensunterhalt finanzierte. Da Seth am eigenen Leib erfahren hatte, wie es einem erging, wenn man nur drei Dollar in der Brieftasche hatte oder von Almosen abhängig war, würde er keinen verurteilen, der für ein gutes Leben vorsorgte.
Es war ein kühler Märzabend, und Seth vermisste seinen Mantel, den er in der Aussicht auf einen sonnigen Tag und Temperaturvorhersagen über zehn Grad zu Hause gelassen hatte. So schob er seine Hände tief in die Taschen seiner Anzughose und marschierte zügig zur U-Bahn-Station.
In Manhattan stieg er aus und checkte kurz sein Smartphone.
Warte vor dem Laden auf dich, hatte Chip oder Charles, wie er hieß, ihm geschrieben. Seth musste ihn endlich fragen, woher er diesen besonderen Spitznamen hatte. Sie kannten sich immerhin seit Jahren, bisher war es nie zur Sprache gekommen.
Er war ein ehemaliger Kommilitone und arbeitete im Arbeitsrecht in einer anderen Kanzlei. Sie hatten sich auf dem Campus kennengelernt. Zwei Semester lang hatten sie an der gleichen Law School studiert, bevor Charles nach New York gewechselt war. Sie hatten Kontakt gehalten, obgleich es nicht Seths Art war, Bekanntschaften zu pflegen. Es war vornehmlich Chip gewesen, der sich immer wieder bei ihm gemeldet hatte.
Über Charles hatte er den Wink mit der freien Stelle bei Mitchell erhalten. Wenn er jemals jemanden als Freund bezeichnet hätte, käme Chip dem als Nächstes.
Wie angekündigt wartete sein Kumpel vor dem Laden in einer von Manhattans Seitenstraßen, die Hände ebenfalls in den Hosentaschen vergraben.
Seth brauchte dem Schaufenster nicht näher zu kommen, um von den weiß glänzenden und glitzernden Ungetümen darin fast zu erblinden.
»Ah, da bist du«, stellte Chip fest und nickte ihm zu.
Seth murmelte eine Entgegnung und ließ Charles vorangehen, damit sie es hinter sich bringen konnten.
Der Name ›Sewing Box‹ untertrieb. Sie fanden sich nicht in einem kleinen Nähschächtelchen ein, sondern einem riesigen Verkaufsraum. Etliche Stangen weißer Brautkleider und Schleier sowie Vitrinen mit glitzerndem Schmuck säumten die Wände. Unmengen von Regalen waren bis zum Anschlag vollgestopft mit Schuhen und anderem Klimbim. In einer Ecke herrschte eine buntere Farbwahl, das mussten die Brautjungfernkleider sein.
Der Bereich, auf den sie sich nun zubewegten, hatte zum Glück keinen Laufsteg und zeichnete sich durch Reihen um Reihen dunkler Anzüge aus. Wobei er den ein oder anderen Farbakzent auch hier entdeckte und sich fragte, wer um Himmelswillen einen knalltürkisfarbenen Smoking kaufte.
Etwas separiert befand sich eine Couchgarnitur in gediegenem Cremeweiß. Davor erhob sich ein gusseiserner, weiß lackierter Tisch, der Block und Stift bereithielt. Ein verschnörkeltes Tablett war daneben angerichtet worden, das Kelche und eine Glaskaraffe mit Wasser trug, in dem Pfefferminzblätter schwammen.
Er und Charles warteten an einem kleinen Tresen vor diesem Separee, bis man sie begrüßen würde.
Hinter ihnen erklangen Schritte, und Seth wandte sich um.
Eine klein gewachsene Frau mit tiefschwarzem Haar trat auf sie zu.
Sie sah ihm lächelnd ins Gesicht. Hätte sie nicht plötzlich mit erstarrten Zügen innegehalten, er hätte länger gebraucht, um sie zu erkennen.
Die Erde schien einen Moment stillzustehen, und sein Atem stockte.
Victoria.
***
Ihr Gesicht wirkte blass. Seth erkannte nicht, ob es ihre natürliche Hautfarbe war, immerhin war sie ein hellhäutiger Typ, oder ob sie mit Make-up nachhalf. Die vier Piercings, je zwei Stecker über und unter ihrer rechten und linken Ober- und Unterlippe, waren in seinen Augen eine Obszönität in diesem makellosen Antlitz. Noch immer war sie schmal, sah aber nicht mehr so kränklich aus wie das zarte Mädchen von einst, an das er sich erinnerte. Ihr schwarzes, spitzenbesetztes Kleid war figurbetont und legte sich wie ein Seidenstrumpf um ihren Körper. Die klobigen Stiefel darunter und die Netzstrumpfhose über ihren schlanken Beinen sorgten dafür, dass das Outfit einem Statement gleichkam.
Der hart gefärbte Farbton ihrer Haare und die Schminke um ihre Augen waren zu heftig neben ihrer Alabasterhaut. Allein das tiefe Grau ihrer Iriden, das fast schwarz anmutete, war die einzige natürliche Dunkelheit in ihrem Gesicht. Ein Schimmern lag darin, vor allem um ihre dunklen Pupillen, wo das Grau einem helleren Ton wich und sich wie ein Kranz um die Schwärze in der Mitte lag.
Ein Onyx. Kalt und unnahbar.
Früher war es anders gewesen. Sie hatten einander nahegestanden, wie Geschwister.
Vicky zu sehen war ein Schock. Es dröhnte in seinen Ohren, und sein Körper fühlte sich an wie betäubt.
Sie schien gleichermaßen überrumpelt zu sein. Unbewusst war sie einen Schritt zurückgetreten, bevor sie sich fasste und mit zusammengekniffenen Augen zu ihm aufsah.
»Seth.« Ihr Flüstern kam einer Frage gleich. Vickys zarte Stimme klang tiefer, als er sie in Erinnerung hatte. Sie hatte ihn bis in seine Träume verfolgt.
»Ihr kennt euch?« Chip runzelte die Stirn und schaute zwischen ihnen hin und her.
Seth war derjenige, der seine Sprache zuerst wiederfand.
»Lange her«, war alles, was er sagte. Gleichgültig wollte er seine Schultern heben und seine Stimme kräftig klingen lassen, während sich sein Innerstes anfühlte, als hätte jemand einen glühenden Schürhaken versenkt.
Verdammt, er hatte sie vermisst. Nicht den Ort, an dem sie zusammen gewesen waren, aber sie ganz gewiss.
Keiner, keiner ahnte von seiner Zeit im Waisenhaus und bei Pflegefamilien. Kein Kommilitone, kein Arbeitskollege, niemand. Das sollte so bleiben.
Victoria biss auf ihre Unterlippe, wobei die Piercings hin und her wackelten. Vier identische Stecker mit schwarzen stecknadelkopfgroßen Kugeln.
An ihren Ohren trug sie tropfenförmige Hänger, die wie antiker viktorianischer Schmuck aussahen. Ein goldener Metallstempel mit Blumenprägung war in der Mitte eingefasst. Die Ohrringe schwangen vor und zurück, als sie sich straffte, Chip ein Lächeln schenkte und fragte: »Du musst Charles sein. Du heiratest also?«
Charles schaute abermals zwischen ihnen hin und her, zuckte kurz mit den Achseln und folgte ihr auf die Couch, während er ihr von seiner bevorstehenden Hochzeit erzählte.
Vicky schnappte sich den Block, der am Oberrand das verschnörkelte Logo der ›Sewing Box‹ trug, und machte sich Notizen. Hier und da hakte sie bei Details wie Hochzeitstermin und Motto der Feier nach.
»Meine Verlobte machte den Vorschlag, dass die Anzüge von meinem Trauzeugen Seth und mir aufeinander abgestimmt sein sollten. Zumindest in den kleineren Details«, fuhr Charles fort und deutete auf Seth.
Vicky nickte.
»Was hast du dir vorgestellt?«, richtete sie ihre Frage an ihren Kunden.
Sie konzentrierte sich auf das Beratungsgespräch, vermied es aber, Seth in die Augen zu sehen, was ihm die Möglichkeit gab, sie eingehender zu mustern, als wenn sie ihn direkt angesprochen hätte. Sobald sie eine Frage an ihn richtete, blickte sie demonstrativ zum Papier auf ihren Knien. Ihm entging nicht, dass sich wiederholt der schwarze Stecker in ihrer Unterlippe drehte. Er verabscheute das Ding mit jedem Moment mehr.
Die Kappe des Stiftes, mit dem sie sich Notizen machte, hielt sie in der linken Hand. Mit ihrem Zeigefinger glitt sie immer wieder unter die silberne Halterung. Das Klickgeräusch, mit dem Metall auf Plastik traf, hallte in seinen Ohren nach wie ein Vorwurf.
Ihre Körperhaltung war aufrecht. Darin machte er weitere Anzeichen ihrer Anspannung aus, da kein Mensch auf diese Weise bequem auf einer Couch sitzen konnte – zumindest nicht, wenn er keine Balletttänzerin war oder Schrauben in seinem Rückgrat implantiert hatte. Seine Kiefermuskeln reagierten, als spiegelten sie ihre Nervosität. Zwischen seinen Zähnen hätte er Korn zu Mehl verarbeiten können. Er ermahnte sich, entspannt zu bleiben und sich auf den Gesprächsinhalt zu konzentrieren. Sein Blick folgte diesem Befehl nicht und zeichnete abermals ihre Gestalt nach. Victorias Anblick glich für ihn einer Erscheinung wie aus einem fantastischen Traum, von dem er sich nicht abwenden konnte.
Nachdem sie die Einzelheiten der Anzüge bezüglich Form und Farbe besprochen hatten, begann sie, zwei Skizzen anzufertigen.
Schon früher hatte er ihr beim Malen und Zeichnen zugesehen. Es hatte ihn fasziniert, wie ihre fähigen Hände über das Papier geglitten waren und so realistische Formen und Bilder hervorgebracht hatten, dass er meinte, es sei eine Fotografie.
Sie hatte Talent.
Während sie malte, schien ein Teil ihrer Anspannung abzufallen. Ihre Schultern sanken herab, und der Stiftdeckel wurde nicht mehr malträtiert. Für jemanden, der mit seinen Händen arbeitete, hatte sie gepflegte Fingernägel. Der schwarze Lack war akkurat und makellos, ohne eine abgesplitterte Ecke.
Grob skizzierte sie die Anzüge und traf exakt ihre Proportionen.
Charles war schmaler als Seth, hatte einen kürzeren Oberkörper, längere Beine und war um wenige Zentimeter größer. Diese Tatsachen waren ihr aufgefallen, denn in der Skizze kamen sie zur Geltung.
Seth überlief eine Gänsehaut, als er sich vorstellte, wie genau sie ihn für diesen Entwurf angesehen haben musste.
Wie ferngesteuert echote er Charles Zustimmung zu ihrem groben Konzept. Dieser Aufenthalt hier fühlte sich an, als stehe er neben sich und sehe zu. Es war unwirklich, auf Victoria getroffen zu sein. Sein Kollege hatte den Großteil der Konversation bestritten. Seth hatte lediglich ein Nicken, ein Brummen, ein Ja oder Nein beigesteuert, während sein gesamter Körper in Anspannung verharrt war.
Zum nächsten Termin würden sie erneut gemeinsam erscheinen müssen, um Abstimmungsprobleme zu vermeiden. Sie würden vermessen werden, und Charles wollte die Stoffauswahl treffen. Nach Seths Ansicht würde er seinem Kumpel alle Entscheidungen überlassen, seine Maße würde er jedoch zur Verfügung stellen müssen. Um einen neuerlichen Termin kam er nicht herum.
»Gut, dann hättet ihr es für heute bei mir geschafft.« Victoria klickte den Deckel auf ihren Stift und legte ihn gemeinsam mit dem Block beiseite. »Dann lasst uns zum Tresen gehen und die darauffolgenden Termine ausmachen.«
Vicky schritt voran. Das Schwarz ihrer Kleidung streckte sie, aber sie reichte ihm nicht einmal bis zur Schulter. Ihre Hüften waren schmal, fast maskulin, da sie keine ausgeprägten Rundungen hatte. Die Schuhe muteten wie Gewichte an, die sie nach unten zogen – klobig und schwer. Hoffentlich waren sie bequemer, als sie aussahen.
Victoria beugte sich vor, um ein Tablet hervorzuholen, in dem sie offensichtlich die Daten eintragen wollte. Ihre langen Haare fielen wie der Tintenschwall einer Sepia vor ihr Gesicht. Im Aufrichten warf sie die Strähnen in einer beiläufigen Geste über ihre Schulter. Ein Hauch von Erdbeeraroma wehte zu ihm heran.
Erdbeershampoo.
Das hatte sie als Kind bereits gemocht.
Dieser Duft war mit ihr verknüpft wie nichts anderes. Dabei machte Seth um Erdbeeren einen großen Bogen, weil er davon einen roten Ausschlag um den Mund bekam. Jedes Mal, wenn er in der Obstabteilung daran vorbeigegangen war und Erdbeeren gerochen hatte, hatte er jedoch an Vicky denken müssen.
Sein Magen zog sich zusammen, und ein unnatürliches Ziehen breitete sich in ihm aus. Wie in einem Traum, den er häufig hatte, in dem er sich nach etwas reckte und streckte und es nicht zu fassen bekam. Als befände er sich Unterwasser, die Oberfläche zum Greifen nah und doch unerreichbar, weil ein Gewicht an seinen Fesseln hing und ihn in die Tiefe zog.
»Passt euch kommende Woche Freitag?«, fragte sie und scrollte die Daten in ihrem Tablet durch. »Zwanzig Uhr?«
Charles prüfte seinen Kalender und nickte. Außer seiner Arbeit hatte er keine Termine, und so stimmte auch Seth zu.
Chip verabschiedete sich, und er blieb hinter ihm zurück. Abermals sah er sich im Fokus ihrer Onyx-Augen.
»Ich nehme an, wir sehen uns«, brachte er leise hervor, froh entlassen zu sein – verschwinden zu können.
»Womöglich.« Ihre Worte waren schneidend. »Das weiß man bei dir ja nie so genau.«
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