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AutorenbildLisa und Anna

Leseprobe zu Die Andoria Chroniken - Im Schatten des Panthers


 


 

4. Malenia


»Ich kann nur hoffen, dass es Trugbilder sind, 

die mich nachts heimsuchen. 

Andernfalls stehen wir schon am Abgrund 

und blicken in den Schlund eines Monsters hinab.«

Aus dem Tagebuch von König Robert Nordis.


Möglicherweise hatten die Soldaten sie wirklich beschützt, denn kurz nach ihrer Begegnung bei den Feldern verklangen die panischen Schreie. Das Flackern der Flammen erstarb. Nia war erleichtert, dass ihr Zuhause ein Stück vom Herzen des Dorfs entfernt lag und somit vom Feuer verschont geblieben war.

Liz wurde fuchsteufelswild, als sie mit Shadow das Haus betrat. Nia wusste, dass sie krank vor Sorge gewesen sein musste, doch sie hatte einfach ins Dorf laufen müssen. Sie konnte nicht tatenlos zusehen, wenn der Zorn der Rebellen sich gegen Unschuldige richtete. Die Menschen hier waren feige. Sie fürchteten Magie, sie verrieten Magische an den König, aber dies taten sie nur aus Angst. Nicht weil sie schlechte Menschen waren. Sie waren nicht schuld an dieser Situation. 

Wie konnte sie nach Hause gehen, wenn andere Dorfbewohner schrien und vor den Klingen der Rebellen und den Flammen flohen? Es war magisches Feuer gewesen. Sie hatte es erst einmal gesehen, aber den stechend grünen Schein würde sie jederzeit wiedererkennen. 

Als sie am Marktplatz angekommen war, hatte sie einen Mann mit durchgeschnittener Kehle erblickt. Die Bäckerei hatte lichterloh gebrannt und die Flammen hatten sie vor Panik erstarren lassen. Shadow hatte ein Loch in ihre Tunika gerissen, als sie Nia von dort weggezerrt hatte. Sie hatte noch immer gezittert, als der Adler aufgetaucht war.

In dieser Nacht schlief sie nicht. Ihr Herz raste, als sie schon längst im Bett lag und die Schreie in der Ferne verklungen waren. Shadow hielt vor dem Haus Wache. Für alle Fälle. Vielleicht hatten die Adler nicht alle erwischt. Oder vielleicht waren die Adler selbst das Problem. 

Sie wusste nicht, woher sie die Kühnheit genommen hatte, auf diese unerschrockene Art mit einem von ihnen zu sprechen. Vielleicht rührte der Mut daher, dass er sich eindeutig vor Shadow fürchtete. Oder es war die tief in ihr liegende Wut, die sie alle Vorsicht vergessen ließ.

Noch eine andere Frage hielt sie wach: Woher hatte Liz von dem geheimen Treffen und der Hütte im Wald gewusst? Und wer wusste noch davon?

Sie verlor sich in ihren wirren Gedanken, bis sie Shadows vertraute Stimme hörte.

Nia. Eine kalte Nase stupste gegen ihre Wange.

Träge schlug sie die Augen auf. Sie brannten vor Müdigkeit.

»Was´n los?«, nuschelte sie und drehte sich auf die Seite. 

Die Adler. Sie sind hier.

Sofort saß sie aufrecht im Bett.

»Was?« Ihr Puls hämmerte. Soldaten.  

Leise. 

Sie stehen vor der Tür.

Ihre Gedanken rasten. Wussten sie Bescheid? Hatten sie beobachtet, was am Abend im Wald geschehen war? Wollten sie zu ihr? Kosteten ihre kühnen Worte sie jetzt Kopf und Kragen?

Ihr Magen zog sich zusammen. Ihre Hände bebten, als sie nach der Leiter griff, die an der Plattform lehnte, auf der sie schlief. Lautlos kamen ihre Füße auf dem kalten Boden auf. Shadow stand an der Zimmertür und blickte hinaus. In der Dunkelheit war sie kaum zu erkennen. Nur ihre Augen schienen zu leuchten. Nia blickte zu Emily und stellte beruhigt fest, dass diese noch schlief. Vorsichtig ging sie neben Shadow in die Hocke und lauschte. Ihre Muskeln waren schmerzhaft angespannt. Bereit, jederzeit aufzuspringen und wegzurennen. Oder Liz zur Hilfe zu eilen. 

Die Stimmen, die aus dem schwach beleuchteten Wohnraum zu ihr drangen, waren kaum zu verstehen. Sie erkannte Liz aufgeregtes Flüstern. Die zweite Stimme war dunkel und unverkennbar die eines Mannes. 

»Verstehst du, was sie sagen?«

Shadows Antwort war ein leises Knurren. 

Sie suchen dich.

Nias Nackenhaare stellten sich auf. Der Schreck ließ sie taumeln. Ihre Knie schlugen hart auf dem Boden auf, als sie das Gleichgewicht verlor. Alarmiert blickte Shadow sie an. Nia unterdrückte einen Fluch. Stumm flehend schloss sie die Augen. 

»Was war das?«

Jetzt klang die Stimme des Mannes klar und laut durch den Flur.

»Sie sagten doch, sie wäre nicht da.« Das war eine andere Stimme. Heller, aber wieder ein Mann.

»Ist sie auch nicht.« Liz Stimme klang schrill vor Angst. »Das war sicher meine andere Tochter. Emily. Sie ist erst zehn.«

»Sie wissen, was die Verweigerung eines königlichen Befehls zur Folge hat, oder?« 

Es klang nicht wie eine Drohung. Sondern genervt. Als wüsste der Sprecher, dass er ohnehin seinen Willen bekam und hätte keine Lust darauf, unnötige Klippen zu umschiffen. 

Trotzdem war Nia im Nu auf den Beinen. Ihre angeschlagenen Knie protestierten schmerzhaft. 

Nicht, Nia. Shadow versperrte ihr die Tür. 

»Sie werden ihr etwas antun«, zischte sie und verpasste ihr einen heftigen Stoß. Shadow fauchte, ließ sie aber vorbei. 

Nia schlich durch den Flur und presste sich dabei eng an die Wand. Ihre Brust schmerzte von der Anstrengung, möglichst lautlos zu atmen, obwohl ihr Herz laut galoppierte. Kühle Luft kroch über den Boden und ihre Beine hinauf. Sie trug nur ein Nachthemd, das gerade so bis zu ihren Knien reichte, und fröstelte. Ihre Hände glitten über die Wand, während sie sich langsam dem Wohnraum näherte. Einen Moment blieb sie stehen, kurz bevor der Lichtschein, der aus dem Wohnraum drang, sie erreichte. 

Nia sah, dass die Haustür einen Spalt aufstand. Doch die Eindringlinge, die durch sie hineingekommen waren, konnte sie nicht erkennen. 

Dafür aber Liz, die in ihrem geblümten Nachthemd neben der Tür stand. Ihre Locken hatten sich zu einem wirren Nest verknotet, als hätte sie sich die ganze bisherige Nacht im Bett hin und her gewälzt. Im Licht der Öllampe, die sie hielt, wirkte sie schrecklich bleich. Die Lampe zitterte in ihrer Hand. 

Shadows warmer Körper drückte sich an Nias Beine.

»Wir werden sie mitnehmen«, sagte einer der Männer drängend. »Notfalls mit Gewalt.«

Das war genug. Ehe Shadow sie davon abhalten konnte, trat Nia aus dem Flur.

»Ich bin hier! Sie suchen doch mich, oder?«

Das Licht der Öllampe enthüllte eine Szenerie, die sie aus ihren Albträumen kannte. 

Ihr gegenüber, neben dem Esstisch, an dem sie einige Stunden zuvor noch friedlich gegessen hatten, standen zwei Soldaten. Richtige Soldaten der königlichen Garde. Keine einfachen Wächter wie die, die den Marktplatz bewachten. Das erkannte sie sofort an der Kleidung und der hochwertigen Schwertscheide, die beide trugen. Nias Angst registrierte jedes Detail an ihnen. Beide trugen sie das Wappen des Königs von Andoria auf ihrer linken Brust: Ein schwarzer Adler auf rotem Grund. In seinen Klauen hielt er ein Schwert.

Weil Stahl die Magie immer besiegen wird, hatte Bram ihr einst erklärt. Das zumindest war es, was der König glaubte und lehren ließ. 

Bram. Ein saurer Geschmack stieg ihr in den Mund. Jetzt ende ich wie Bram. Der Gedanke zwang sie fast in die Knie.

Die Soldaten starrten sie an. Einer von ihnen war eher klein und etwas fülliger. Der lederne Brustharnisch konnte seinen Bauch nicht ganz verstecken. Er hatte die roten Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und die Arme verschränkt. Seine Augen schauten unter wirrem, dunklem Haar hervor, in dem sich erste graue Strähnen zeigten. 

Nia konnte seinen Gesichtsausdruck kaum erkennen, da ein Vollbart viel von seiner Mimik verbarg. Aber sie meinte, seine Augenbrauen vor Überraschung zucken zu sehen. 

Der Geruch von nassem Pferd lag in der Luft. Ein vertrauter Geruch, von Fremden in ihr Heim getragen.

»Lady Malenia?« Sie zuckte zusammen. Das kam von dem anderen Soldaten. Er war das ganze Gegenteil seines Begleiters. Groß, schlaksig und jung. Beide Männer wirkten nicht so, wie sie sich königliche Soldaten vorstellte. Stark, durchtrainiert, kalt. Sie waren nichts davon.

Für einen Moment hatte er Nia aus dem Konzept gebracht. Noch nie hatte sie jemand Lady genannt. 

»Ja?«

Sie verfluchte ihre heisere Stimme. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war so verängstigt zu wirken, wie sie sich fühlte. 

»Mein Name ist Leif«, sagte der Jüngere. »Das ist Duncan. Wir sind Soldaten im Auftrag Ihrer Majestät König Robert Nordis von Andoria. Wir haben den Befehl, Sie mitzunehmen.«

Seine Worte verschwammen in ihrem Kopf. Es gelang ihr kaum, etwas davon zu erfassen. Es waren nur Töne und Laute, aneinandergereiht und vorerst ohne Sinn. Sie hallten in ihrem Kopf wider. Mitnehmen. Den Befehl, Sie mitzunehmen. Liz Hand legte sich auf ihre Schulter und brachte sie wieder zur Besinnung. 

»Mitnehmen?«, krächzte sie. »Wohin?«

»Nach Dragoterra. Zum König.«

»Ich habe nichts getan.« Die Worte waren ihr entschlüpft, ehe sie es verhindern konnte.

Bleib ruhig. Ich glaube, sie wissen nichts. 

Zittrig atmete Nia aus. Ein kurzer Seitenblick verriet ihr, dass Shadow noch im Flur lauerte. Mit Magischen wird kurzer Prozess gemacht. Sie werden nicht erst zum König gebracht.

Duncans Augenbrauen hatten sich zusammengezogen. 

»Das hat auch niemand behauptet.«

»Aber warum dann? Warum sind Sie hier?« 

»Darauf kann ich Ihnen nicht antworten«, sagte Duncan. Seine Stimme hatte einen warmen, beruhigenden Klang, der sie jedoch kaum erreichte. »Unser Befehl ist nur, Sie schnellstmöglich zum König zu bringen.«

Seine Worte ergaben keinen Sinn. Wenn es nicht darum ging, dass sie eine Magische war, was wollten die Soldaten dann hier? Was wollte der König von ihr?

Sie reckte das Kinn vor. Richtete sich weiter auf und nahm die Schultern zurück. Obwohl sie sich in ihrem dünnen Nachthemd schutzlos fühlte. Was auch immer hier vorging, sie wollte es ihnen nicht einfach machen. Sich nicht fügen, bevor sie Antworten bekam. »Warum sollte der König sich für mich interessieren? Was wollt ihr wirklich?«

Leif hob beschwichtigend die Hände. »Ich kann Ihre Verwirrung verstehen.« Sie wäre am liebsten aus der Haut gefahren. Seine gezwungene Höflichkeit machte sie wahnsinnig. 

»Aber wir haben den Befehl, Sie zum König zu bringen«, fuhr er fort. »Er erwartet Sie. Alles Weitere wird er Ihnen erklären, sobald wir in Dragoterra sind.«

»Das verstehe ich nicht. Wozu?« Hilfesuchend blickte sie zu Liz. Diese sagte kein Wort. Sie hatte die Lippen so fest zusammengepresst, dass sie weiß waren. Tränen schimmerten in ihren Augen. 

»Liz?«

Langsam wandte sie den Kopf. Eine einzelne Träne rollte ihr über die Wange. »Du musst mit ihnen gehen, Nia.« 

Der Boden unter ihren Füßen schwankte. Im ersten Augenblick dachte sie, sie hätte Liz falsch verstanden. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern gewesen. Doch ihr gequälter Gesichtsausdruck verriet, dass sie die Worte richtig wahrgenommen hatte.  Verwirrt blickte sie zwischen den Soldaten und Liz hin und her. Ihr wurde schwindelig und sie musste sich am Tisch abstützen. 

»Nein«, keuchte sie. 

»Wir geben Ihnen Zeit, ein paar Sachen zu packen, Lady -«

»Hören Sie auf, mich so zu nennen!«

Wut durchströmte sie und klärte ihre Gedanken. »Ich gehe nirgendwo hin.« 

Liz packte ihr Handgelenk. Alle starrten sie an. 

Das gefällt mir nicht. Sie spürte Shadows zunehmende Unruhe wie ein hektisches Flügelschlagen in ihrer Brust.

Mir auch nicht, dachte sie verzweifelt. 

»Ich erinnere nur ungerne daran«, sagte Duncan und trat einen Schritt vor. »Aber die Missachtung eines königlichen Befehls gilt als Hochverrat. Dieser wird mit dem Tod bestraft.« 

Nia wusste nicht, ob es aus Absicht oder aus unbewusster Gewohnheit geschah, aber seine Hand legte sich auf den silbernen Knauf seines Schwertes. Sie hatte es kaum registriert, da erklang ein tiefer, kehliger Laut.

Das Geräusch war ihr vertraut wie ihre eigene Stimme. Es kam tief aus Shadows Hals. Grinsend drückte sie den Rücken durch. Mit einem kräftigen Sprung kam die Pantherdame aus dem dunklen Flur und landete mit ausgefahrenen Krallen vor Nias Füße.

Duncan und Leif taumelten erschrocken zurück und zogen ihre Schwerter. Metall klirrte. Shadow hatte ihre Ohren angelegt und fauchte. Duncan fing sich schnell wieder und holte mit dem Schwert aus. Shadow setzte zum Sprung an. Nia schrie. 

Da warf sich Liz vor den Panther. Das Schwert verharrte im letzten Moment an ihrem Hals. 

»Stopp!«, keuchte sie. Ihre ausgebreiteten Arme bebten. »Das Tier gehört zu uns.« 

Duncan und Leif tauschten einen atemlosen Blick. Schweiß stand ihnen auf der Stirn.

»Sie beherbergen ein wildes Tier?«

»Wir retteten ihr Leben, als sie wenige Wochen alt war«, antwortete Liz hastig. »Sie ist zahm. Sie gehört zu Nia.«

»Sie?«, wiederholte Leif ungläubig. Er wischte sich das blonde Haar aus der Stirn und blickte fassungslos auf Shadow hinab.

Nia spürte leise Genugtuung angesichts der verwirrten Gesichter. »Darf ich vorstellen: Das ist Shadow.« Sie dachte an Duncans Drohung. Obwohl ihr das Herz dabei bis zum Hals klopfte, sagte sie: »Sie bestraft auch gerne mit dem Tod.«

Demonstrativ ließ sie ihre Hand über Shadows glattes Fell gleiten. Die Pantherdame entspannte sich etwas. Sie setzte sich auf ihre Hinterbeine und ihr Fauchen und Grollen verstummte.

Das hat Spaß gemacht. Wer hätte gedacht, dass man den Adlern so leicht einen Schrecken einjagen kann? Nia ging nicht darauf ein. Zum einen konnte sie vor den Soldaten nicht mit ihr sprechen und zum anderen spürte sie noch immer die Unruhe ihrer treuen Begleiterin. Shadow war genauso verwirrt wie sie. 

Die Soldaten tauschten einen langen Blick und schienen zu dem Entschluss zu kommen, dass von ihr erstmal nichts mehr zu befürchten war. Langsam ließen sie ihre Schwerter zurück in die ledernen Hüllen gleiten. Duncan räusperte sich. Seine Augen ließen von Shadow ab und richteten sich auf Liz und Nia. 

»Nun gut. Aber das ändert nichts. Sie haben zehn Minuten, um ein paar Sachen zu packen, dann reiten wir los. Sollten Sie sich weigern, wird das Konsequenzen haben. Auch Ihre Begleiterin kann daran nichts ändern.«

Er deutete auf Shadow. Dann winkte er seinem Kameraden und die beiden gingen ohne ein weiteres Wort nach draußen. Liz schlug die Haustür zu und lehnte ihre Stirn dagegen. 

Nia sackte in sich zusammen. Verzweifelt legte sie den Kopf in die Hände. »Was soll das alles? Was wollen die von mir?«

Sie bekam keine Antwort. Als Liz sich zu ihr drehte, hatte sie einen entschlossenen Ausdruck im Gesicht. Überraschend fest packte sie Nias Handgelenke und zerrte sie in den Flur.

»Wir haben nicht viel Zeit«, stieß sie hervor und schob sie in ihr Schlafzimmer. 

»Bewach die Haustür, Shadow«, sagte sie noch, bevor sie die Tür schloss.

Klappernd stellte sie die Öllampe auf ihren Nachttisch. 

Dieser Raum war etwas kleiner als das andere Schlafzimmer. Es gab ein Bett, auf dem zerwühlte Decken lagen, eine Waschwanne und einen schmalen Schrank, in dem sie alle ihre Kleidung aufbewahrten.

»Was ist los?«, fragte Nia. Irritiert sah sie zu, wie Liz vor ihrem Bett in die Knie ging. »Was tun wir hier? Wir müssen uns etwas einfallen lassen, um die Soldaten loszuwerden.«

Sie antwortete nicht. Stattdessen griff sie unters Bett und zog eine Sekunde später ein Bündel hervor. Es war ein Beutel aus Leinen, etwa so groß wie ein Kartoffelsack. 

»Hier.« Sie drückte in Nia in die Arme. Irritiert blickte diese hinein. Kälte erfasste sie. In dem Sack lagen ein paar ihrer eigenen Kleidungsstücke. Da begriff sie. 

»Du wusstest es«, stieß sie hervor. »Du wusstest, dass sie kommen, um mich zu holen?«

Liz Unterlippe zitterte. Ganz langsam nickte sie. Nia stolperte einen Schritt zurück und sackte gegen die Tür. 

Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Die Sorgen, die sie so gut versteckt hatte, dass nur Shadow sie bemerkte. Den Brief, den sie immer verschwinden ließ.

»Gideon hat es dir geschrieben, oder?« Sie blinzelte hektisch, um die Tränen der Wut zu vertreiben, die ihr in die Augen stiegen. »Das stand in dem Brief, den du immer versteckt hast.«

Sie konnte Liz schlucken hören. Verrat. Das war das Erste, was sie fühlte. Warum hatte Gideon nicht ihr geschrieben? Wieso Liz? Warum hatten sie das vor ihr verheimlicht?

»Wieso hast du nichts gesagt?«, schrie sie eine der Fragen heraus, die ihr durch den Kopf schossen. »Du hättest mich warnen können! Ich hätte mit Shadow davonlaufen können!« 

»Du musst nicht weglaufen.«

Verwirrt blickte sie auf. Liz Worte waren kaum hörbar gewesen. Das Flackern der Öllampe malte dunkle Schatten auf ihr Gesicht. 

»Was meinst du?« 

Sie schwieg. Dann ging sie in die Hocke und schob erneut ihre Hände unter ihr Bett.

Ein leises Schleifen ertönte, als sie noch etwas darunter hervorzog. Es war ein kleines Päckchen, in roten Stoff eingeschlagen. Als Liz es ihr hinhielt, erkannte sie, dass jemand mit feinem, goldenen Garn ein Wort in den Stoff gestickt hatte. Malenia.

Langsam strich sie mit einem Finger über die verschlungenen Buchstaben.

»Was ist das?« 

Liz räusperte sich. Als sie sprach, klang ihre Stimme fest und klar. »Kurz bevor sie starb, hat deine Mutter mir dies gegeben.«

Nias Atem stockte. Ihre Mutter?

»Sie sagte, irgendwann würde der Tag kommen. Vielleicht wenn du noch ein Kind bist, vielleicht aber auch erst viel später. Dann werden die Soldaten kommen. Und du musst mit ihnen gehen.«

Die Worte drangen an Nias Ohren und raubten ihr die letzte Energie. Ihre Knie begannen zu beben und sie ließ sich auf Liz Bett sinken. 

»Meine Mutter? Aber wieso? Woher wusste sie das?«

Ein Kloß im Hals machte ihr das Sprechen schwer. »Was ist hier los?«, würgte sie hervor.

Liz schluckte. »Ich weiß es nicht. Deine Mutter gab mir dieses Bündel und ließ mich schwören, es dir mitzugeben, wenn der Tag gekommen ist. Sie sagte, ich solle nicht hineinsehen. Wissen kann gefährlich sein, sagte sie. Aber auf jeden Fall sollte ich es dir geben und dafür sorgen, dass du mit ihnen gehst. «

Tränen brannten in Nias Augen. Diesmal ließ sie diese ungehemmt über ihre Wangen laufen. Ihre eigene Mutter, die sie nie gekannt hatte, wollte, dass sie zum König ging. An den gefährlichsten Ort, den es für jemanden wie sie geben konnte. Zu dem Menschen, der die Magischen mit dem Tod für einen Teil ihrer selbst büßen ließ.

»Nia.« Eine schmale Hand legte sich an ihre Wange und wischte ihr die Tränen weg.

»Deine Mutter wollte nur das Beste für dich. Deshalb kam sie zu uns, als sie von dir erfuhr. Sie wusste, es besteht die Möglichkeit, dass du eine Magische bist. Nur deshalb hat sie Dragoterra verlassen. Für deine Sicherheit.«»Wieso hat sie mich weggebracht, wenn sie gleichzeitig wollte, dass ich dorthin zurückkehre? Das ergibt doch keinen Sinn!«

Liz öffnete den Mund, nur um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich kann es dir nicht sagen. Aber ich glaube, man wird dich gut behandeln.«

»Das kannst du nicht wissen!«, widersprach sie heftig. »Meine Mutter wusste nicht, dass die Reinheitsgesetze auf uns zu kommen. Sie wusste nicht, wie gefährlich es für mich sein würde.«

»Es war ihr letzter Wunsch und es war ihr sehr wichtig. Ich glaube, sie wusste mehr, als sie verraten hat.«

Nia starrte sie an. Ihr Herz zog sich zusammen. Auf einmal war sie sich sicher, dass Liz ihr etwas verschwieg. Sie wusste mehr, als sie verriet. Vielleicht sogar, warum die Soldaten wirklich hier waren. Sie waren nicht nach Karstons River gekommen, weil sie eine Magische war. Sie wussten es nicht. Aber weshalb waren sie dann hier?

»Du musst dich anziehen.« Liz nahm ihr vorsichtig das rote Päckchen aus den Händen und legte es zu den anderen Dingen in den Beutel. »Sie werden nicht mehr lange warten.«


Wenige Minuten später stand Nia zitternd vor Nervosität an der Haustür, mit einer Hand auf dem Knauf. Sie hatte stabile Lederschuhe, eine robuste Hose und ein leichtes Hemd angezogen. Nebenbei hatte sie Shadow in knappen Worten berichtet, was sie eben erfahren hatte. Liz stand hinter ihr, mit dem Bündel in den Händen. Ihre Kehle schmerzte vor Trauer und sie hatte Mühe, die nächsten Worte auszusprechen. »Gene, Gendry und die anderen … . Kannst du ihnen sagen, was geschehen ist? Ich will nicht, dass sie denken …« Sie brach ab. Sie konnte die Worte nicht aussprechen. Tod. Hinrichtung. 

Liz nickte ernst. »Ich werde es ihnen sagen.«

»Woher wusstest du eigentlich von dem Treffen?«

Ein trauriges Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Ehrlich gesagt, weiß ich schon lange davon. Es war Bram, der diese Treffen ins Leben gerufen hat.« Ihre Unterlippe zitterte, als der alte Schmerz in ihr aufwallte. Nia wandte sich ab, unschlüssig, was sie davon halten sollte. Noch ein Geheimnis. Sicher hatte Bram nur versucht, sie zu schützen. Dennoch schmerzten all die Dinge, die er ihr verheimlicht hatte, wie Messerstiche.

Shadow blickte zu ihr auf. Ihr Schwanz zuckte unruhig hin und her. 

»Ich schaff das nicht, Shadow«, wisperte Nia. Ihre Hand schloss sich verkrampft um den Knauf. Ihr war übel. Im Kopf ging sie ihre Möglichkeiten durch, doch ihr fiel nichts ein, wie sie ohne Schaden aus dieser Situation herauskommen konnte. Sie musste tun, was die Soldaten verlangten. Angst schnürte ihr die Luft ab. 

»Ich kann nicht mit ihnen gehen.«

Shadow blinzelte sie an. Ich bin bei dir, Nia.

Sie nickte. Es war beruhigend, dass Shadow ihr keinesfalls von der Seite weichen würde. Doch es konnte ihr ihre Furcht nicht nehmen. Es war nicht die Angst vor den Soldaten, sondern vor dem, was sie in Dragoterra erwartete. Die Angst vor der Nähe des Königs. Die Angst vor dem Unbekannten. Sie atmete zitternd ein und zwang sich, den Knauf zu drehen und die Tür zu öffnen.

 


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