Leseprobe zu Ein Herz aus Wasser
- Lisa und Anna
- 21. März
- 23 Min. Lesezeit

Aus den Legenden von der alten Zeit, verfasst im Jahr 503 nach der Entstehung Sevets
Vor vielen, vielen Jahren herrschte die Dunkelheit, überall, wo man heute stehen, gehen und schwimmen kann. Es gab keine Zeit, und erst recht kein Leben, bis die fünf großen Götter die Welt erschufen. Sevet, unsere Heimat. Sie teilten sich das gleiche Blut, doch jeder von ihnen besaß eine besondere Magie, mit deren Kraft und Schönheit nichts sich zu vergleichen wagte.
Pundra schuf die Erde, den soliden Grund. Revodan schenkte der Welt das Wasser, von den unzähmbaren Ozeanen bis hin zu den klaren Bergseen. Der Dritte im Bunde, Vitror, spannte das Firmament wie einen Schild über das Werk seiner Geschwister, ließ seinen Atem hineinströmen und gab Sevet so die lebensspendende Luft. Zivora brachte als Vierte im Kreis das Leben auf die Welt. Aus ihrem Schoß kam alles, was atmet. Vom Menschen bis hin zur winzigen Ameise, dem mächtigsten Baum ebenso wie dem kleinsten Grashalm. Osundek, der jüngste der Götter, schenkte den Bewohnern Sevets zum Abschluss das Wissen, dass alles vergänglich ist. Dass auf den Tag die Nacht folgt, auf das Leben der Tod und setzte so den Wunsch in sie, Bedeutung zu erlangen in der Zeit, die ihnen auf Sevet geschenkt wurde.
Die Menschen fanden sich zu Stämmen, später zu Ländern zusammen. Sie führten Kriege, schlossen Frieden und entdeckten neue Kontinente. Mit jedem Jahrhundert, das verging, verblasste die Erinnerung an die fünf Götter mehr und mehr in ihren Köpfen. Und mit ihnen die Unsterblichen selbst. Sie sahen, dass die Menschen sie nicht länger brauchten und überließen sie ihrem Schicksal.
Nur Revodan verweigerte es, sich dem Lauf der Zeit zu unterwerfen. Mit Groll auf die Menschheit im Herzen zog er sich ins Meer zurück und schwor, dass man ihn niemals vergessen würde. Wenn er seine Stürme sandte, die Ungläubigen zu bestrafen und ihre Schiffe hinabzureißen in sein finsteres Reich, erinnerten sich die Weisen und sprachen: »Das ist die Rache Revodans. Der Gott des Meeres zürnt uns.« So blieb die Erinnerung an ihn in den Köpfen der Menschen lebendig.
Die, die seine Werte in sich trugen, in deren Herzen die Unbeugsamkeit heiß brannte und deren Hände geführt wurden von Mut, rief er zusammen und erhob sie zu den Piraten, seinem Gefolge. In einer Bucht, geschützt vor neugierigen Augen, errichteten sie sich einen Zufluchtsort und schufen ihre Heimat. Sie alle waren Ausgestoßene, von der Gesellschaft lange missachtet wie ihr Gott selbst, die unter dem Segen des Herrsches der Meere ihre Bestimmung fanden. Kinder Revodans nannte man sie und fürchtete sich, wann immer die Segel ihrer Schiffe am Horizont aufflammten.
Aus ihren Reihen erwählten die Piraten einen Rat, dem sie das Recht zugestanden, über sie alle zu herrschen. Diese zehn nannte man Fürsten, und an ihre Spitze wählten sie den Schlauesten, Stärksten und Erfahrensten als Stellvertreter Revodans auf Sevet. Sie gaben ihm den Titel Piratenkaiser, um all dem Adel der anderen Länder zu spotten. Der Unsterbliche selbst billigte diesen Weg und schuf aus Blut und Magie einen Schwur, die Fürsten an den Kaiser zu binden und ihm ihre ewige Treue zu sichern. So erlangte die Gesellschaft der Piraten ihre Stärke.
Ihnen gehört das Meer, die Wellen geben ihren Schiffen Geleit und das Brausen des Sturms ist ihre Fanfare, vor der jeder erschauert. Aus den Tiefen der Ozeane wacht Revodan weiter über seine Kinder, lenkt ihre Wege und schenkt den Gefallenen in seinem Wasserreich die letzte Zuflucht.
Doch mit dem Zauber, den der Gott des Meeres wirkte, kam etwas Mächtigeres aus den Tiefen des Ozeans hervor. Eine Prophezeiung, in der Lage, die Welt zu retten oder ins Chaos zu stürzen.
»Es wird einen geben, geboren im Sturm, der auserwählt ist, den Göttern zu folgen. Alles zu einem zusammenzufügen, zu verbinden, was zerrissen ist, und zu verschonen, was jeder andere hätte untergehen lassen. Einen, der der Welt den Frieden zurückbringt.«
So harrte Revodan aus, wartete darauf, dass sich der wahre Herrscher der Piraten offenbarte. Einer, dessen Schicksal eng mit der Zukunft aller verwoben war. Durch dessen Adern die alte Magie floss. Einen Kaiser, der die Prophezeiung erfüllte.
Eins
»Springt!« Der Boden unter unseren Füßen endete so abrupt wie der Atem eines Sterbenden. Vor uns klaffte der Abgrund als hungriger Schlund auf und war bereit, alles zu vernichten, was ihm dargebracht wurde. Und ich bot mich ihm an, warf mich mit Schwung nach vorn und segelte hinein in das Nichts.
Fast geräuschlos glitt ein Pfeil dicht an meinem Gesicht vorbei. Viel zu knapp. Ich ruderte mit den Armen in einen aussichtslosen Versuch, das Gleichgewicht im freien Fall zu halten. Neben mir stürzten meine Gefährten ebenfalls wie Steine den türkis glänzenden Wellen unter uns entgegen. Rasend schnell kamen sie näher und versprachen im Schoß des Gottes den Schutz vor unseren Verfolgern.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte mein Bein. Ich keuchte auf und tauchte einen Herzschlag später in die wilden Fluten ein. Die Wucht des Aufpralls traf mich mit der Urgewalt des Ozeans. Wirbelnd bog ich mich im Tanz der Wogen und verlor das Gespür für oben und unten. Die gemarterte Lunge, der durch den Schmerz jegliche Luft geraubt worden war, schrie verzweifelt nach dem lebenswichtigen Odem. Aber der Strom des Meeres umklammerte meinen Körper, und in seinen Armen sank ich tiefer, bis zu der Grenze, wo das strahlende Türkis in dunkles Blau umschlug. Ich hatte keine Angst vor dem Ertrinken. Warum auch? Wenn Revodan mich zu sich rief, folgte ich ihm hinab in sein Reich.
Neben mir pflügte ein Schemen durchs Wasser und packte mit entschlossenem Griff meinen Oberarm. Die Finger gruben sich fest in das Fleisch, und ich schrie auf, verschenkte den letzten kostbaren Atemzug, der mir geblieben war. Ein Ruck lief durch mich hindurch, als ich den dunklen Tiefen entrissen und zurück Richtung Oberfläche gestoßen wurde. Der zusätzliche Impuls spornte die Beine an, schneller zu schlagen und mich weiter durch das Wasser zu tragen. Ich hatte zwar keine Angst vor dem Ertrinken, aber die den Leib beherrschende Seele war noch nicht bereit, in das Reich Revodans zu ziehen.
»Es ist nicht an der Zeit für dich, Tochter des Meeres«, säuselte eine feine Stimme in meinem Ohr. Sie klang so zart, so sanft, dass ich sie für eine Einbildung hielt, denn der wilde Herzschlag dröhnte mir in den Ohren und betäubte den Hörsinn. Eine Erscheinung des Deliriums, die mir eines verdeutlichte: Atmen. Ich sehnte mich nach Luft.
Mein Kopf durchbrach die Wasseroberfläche, und gierig sog ich die kühle Meeresbrise ein. Es roch nach Salz, Algen und dem feuchten Gestein der Klippen, die wenige Meter neben uns in die Höhe wuchsen. Prustend trat ich in die Wellen und blinzelte gegen das Wasser in den Augen an, während ich mich nach meinen Gefährten umsah.
»Sind alle unverletzt?«, fragte ich und entdeckte die drei Köpfe, die auf den Wellen tanzten.
»Jawohl, Kapitänin.« Gonar löste seinen eisernen Griff von meinem Arm und schaffte es, obwohl er von den Fluten ebenso herumgeworfen wurde wie die anderen, kurz seinen Kopf vor mir zu neigen. Seine Augen glänzten rot von dem Salzwasser, und auf seiner Stirn schimmerte blutig eine schmale Wunde, die er sich auf unserer Flucht über die Insel zugezogen hatte.
»Wieder kein Schatz«, zischte Verdariol neben uns und schlug mit der flachen Hand aufs Wasser.
»Aber eine Horde wütender Inseleinwohner«, sagte ich grinsend und sah die Klippen hinauf. Viele kleine Punkte sammelten sich am oberen Rand, drohten mit ihren Speeren und schossen uns Pfeile hinterher, von denen uns keiner zu erreichen vermochte. Dafür, dass dieses Stück Land auf der Karte als unbewohnt gekennzeichnet war, wirkte es sehr lebendig. »Zurück zum Schiff.«
»Wir finden den Schatz von Galmandur nie!«, fauchte Irema und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Hai-Schaschlik.«
»Hör auf mit deinen Flüchen übers Essen und schwimm«, murrte Gonar.
Die Frau mit der von der Sonne gezeichneten Haut und den zu Zöpfen verfilzten Haaren zuckte mit den Schultern. »Ich habe eben Hunger.«
»Du hast immer Hunger«, entgegnete ich und überholte sie, den Schmerz ignorierend, der sich mein Bein hinaufarbeitete wie eine Alge den Fels. Nicht weit vor uns tanzte das Schiff auf den Wellen. Ein schlanker Dreimaster aus hellem Holz, mit dunkelblauen Segeln und einer anmutigen weiblichen Galionsfigur, die eine Schriftrolle in den Händen hielt. Die Botin. So hieß mein Schiff, und sie war das schnellste in der Flotte unseres Kaisers.
Eine ungünstige Schwimmbewegung jagte mir ein Inferno durch das Bein, und ich biss mir auf die Lippe. Auf keinen Fall gestattete ich es diesem Schmerzensschrei, das Rauschen der Wellen zu übertönen und bis an die Ohren meiner Crew zu dringen. Erst, wenn sie wieder sicher auf den Planken unseres Schiffes standen, war es Zeit für mich, nach mir selbst zu sehen. Statt des Schreies atmete ich scharf aus, und der Wind trug den Ausdruck der Qualen ungehört davon. Meine Muskeln verkrampften sich, und ich geriet etwas in Schieflage. Die stürmischen Böen trieben mir die spritzende Gischt ins Gesicht, und die kühlen Wellen rollten über mich hinweg. Das Meer zwang mein Bewusstsein durchzuhalten, und verbissen fixierte ich das Ziel. Nicht mehr weit bis zum Schiff.
»Keine Sorge, Yara.« Verd schloss mit kräftigen Schwimmzügen zu mir auf. »Der Schatz wartet schon darauf, von dir geborgen zu werden.«
Ich nickte nur und schlug mit der Handfläche am rauen Holz der Botin an. Sehnsüchtig schmiegte sich meine Hand an die nassen Planken, und rau bohrten sich einige Splitter in die Finger. Von der Reling entrollten sich zwei Strickleitern zu uns in die Tiefe und schlugen polternd gegen den Rumpf. »Hinauf mit euch.«
Verd und Irema hangelten sich nach oben und verschwanden innerhalb weniger Herzschläge über die Reling aufs Deck.
»Jetzt wir«, meinte Gonar und ergriff die erste Stufe.
Ich hielt inne, den Blick fest auf die die Sprosse greifende Hand gerichtet. Ein Zittern rann durch mich, und ich drehte den Arm langsam, sodass die Handfläche nach oben zeigte. Sie war makellos, und der Anblick versetzte mir einen Stich ins Herz, erinnerte er mich doch klar daran, dass mir etwas fehlte, das zehn andere Piraten in unseren Reihen besaßen. Die lang gezogene Narbe quer über der Handfläche, die sie als Fürsten auswies und den Treueschwur bezeugte. Eine Treue, die ich dem Kaiser sofort schwören würde, wenn er mir Gelegenheit dazu gab.
»Bald, Kapitänin. Wir geben nicht auf.« Gonar sah von der Leiter zu mir in die Tiefe, und ich riss meine Gedanken von der Handfläche los.
»Du hast mich durchschaut, Gonar«, erwiderte ich ihm und verzog den Mund zu einem gepressten Lächeln.
»Es ist meine Aufgabe, dich zu durchschauen, Yara. Sonst wäre ich als dein Erster Offizier so brauchbar wie ein Schiff mit Leck. Jetzt komm.« Er nickte mir zu und kletterte weiter hinauf.
Ich trat ein letztes Mal Wasser und streckte im Schwung nach oben die Hand der ersten Stufe entgegen. Fest umschlossen meine Finger das Rundholz, und ich drückte mich eng an die Botin, als ich mit purer Armkraft das restliche Stück überwand. Dabei streiften auch meine Oberschenkel die Planken, und der Schmerz raste durch mich hindurch. Wie ein sich ausbreitendes Flammenmeer setzte er jede Zelle in Brand und trieb mir die schwarzen Punkte vor die Augen. Ein Schrei flüchtete aus meiner Kehle, ehe ich ihn hinter den Lippen einsperren konnte, und die Leiter entglitt mir. Ich fiel zurück ins Wasser, und die Wellen schlugen über mir zusammen. Den Schmerz zurückdrängend ruderte ich mit den Armen und kämpfte mich wieder nach oben.
»Kapitänin!« Gonar hangelte sich auf der Leiter in die Tiefe, packte meinen Arm und zog mich mit der Leichtigkeit eines hart arbeitenden Seemanns zu sich in die Höhe. Automatisch griff ich nach einer Sprosse weiter oben und atmete tief durch. Dann sah ich an mir herab, mit einer vagen Vorstellung von dem, was mich erwarten würde. »Viergeteilter Klabautermann nochmal!« Gonar fluchte so laut, dass an der Reling besorgte Gesichter erschienen. »Zieht uns nach oben. Zügig!«
»Keinen Aufwand wegen mir«, murmelte ich und lehnte den Kopf an meine Hand. Der klebrige rote Fleck auf dem Hosenbein breitete sich aus und lenkte den Blick wie ein Warnsignal zu meinem Oberschenkel und dem Auslöser dieser bohrenden Qual. Einem Pfeil, dessen mit Federn versehener Schaft auf der einen und die geschliffene Pfeilspitze auf der anderen aus meinem Bein ragte.
Durch die Kraft meiner Crew bewegte sich die Leiter langsam in die Höhe, und Gonar drückte mich eng an die Sprossen. Er schirmte mich zur See hin ab und verhinderte, dass ich zurück in die an das Schiff schlagenden Wellen stürzte.
»Ich lasse nicht los«, versicherte ich ihm, auch wenn meine die Leiter umklammernden Finger langsam taub wurden und immer weiter abrutschten. »Keine Sorge.«
»Ich mache mir keine Sorgen, weil ich hier bin, um genau darauf zu achten«, entgegnete er schroff. Sein freundlicher Tonfall war gewichen und die Panik schwappte mir aus seiner Stimme entgegen.
Gonar war mein Erster Offizier, schon von dem Tag an, an dem ich den Fuß auf die Botin gesetzt hatte. Seine Loyalität war grenzenlos weit wie der Ozean vor uns. Das Einzige, was diese Treue überwog, war seine Liebe zu Mariette, der Steuerfrau, die nur leider rein gar nichts von seinen Gefühlen wusste.
»Ist das Schwimmen so anstrengend?« Ein blonder Haarschopf tauchte über uns auf.
»Ach, geh das Deck schrubben, Taron«, zischte ich, und die in mir brodelnde Wut ließ meine Wangen glühen.
»Das kann einen Moment warten. Bis ich dir dabei zugesehen habe, wie du wieder Atem schöpfst. Kommt schließlich nicht oft vor, dass deine perfekte Fassade fällt, Kapitänin.«
Gonar kletterte mit zwei raschen Griffen an mir vorbei nach oben und schwang sich federleicht über die Reling. Er streckte einen Arm aus und stieß Taron etwas zurück. »Tretet beiseite, Fürst!«, fuhr er den Mann vor sich an. »Das ist nicht Euer Schiff.«
»Immer mit der Ruhe, Bluthund«, entgegnete er aalglatt und hob scheinheilig die Hände. »Ich stehe im Rang höher als du.«
»Nicht, solange ich Kapitänin auf diesem Schiff bin«, ächzte ich und wuchtete mich bäuchlings über die Reling. Meine Hände griffen ins Leere, und ich stürzte kopfüber nach vorn.
»Yara!« Die Umstehenden hechteten auf mich zu, doch ich schlug hart auf dem Deck auf, ehe sie mich erreichten. Mein Bein protestierte wegen der unsanften Landung, und ich krümmte mich zusammen. Die Tränen brannten in den Augenwinkeln und legten einen verschwommenen Schleier über meinen Blick, doch die blauen Augen, die nun über mir auftauchten, hätte ich auch fast blind erkannt.
»Du bist verletzt.« Der gleichgültige Ausdruck in Tarons Gesicht verschwand so schnell, wie der Wind bei Sturm wechselte, und er erblasste.
»Nicht der Rede wert«, murmelte ich und richtete mich so weit auf, dass mein Rücken an der Reling lehnte.
»Ich muss den Pfeil entfernen«, knurrte Gonar und griff sich eines der Schiffsmädchen aus der Menge. »Du. Bring mir einen Eimer Meerwasser.« Das Mädchen hechtete los, so schnell, als wäre sie auf der Flucht vor einem Geist.
»Nicht in diesem Ton«, rügte ich den Ersten Offizier und registrierte den bestürzten Ausdruck, der über sein Gesicht huschte, ehe Taron wieder meine Aufmerksamkeit forderte.
»Da siehst du, wohin dich dein Versuch führt, eine Fürstin zu werden. Das ist Wahnsinn.«
»Sei still, Taron!«, fauchte ich. »Heuchlerische Worte, wo du doch bereits ein Fürst bist.«
»Und du Kapitänin. Der Kaiser vertraut dir.«
»Würde er mir vertrauen, hätte er bei der letzten Wahl nicht Perko, sondern mich zu einer Fürstin ernannt.« Ich ballte die Hand zur Faust und kanalisierte so meinen Zorn und Schmerz.
»Und du denkst, dein Leben bei der Suche nach einem Schatz aufs Spiel zu setzen, der mit großer Wahrscheinlichkeit gar nicht existiert, ist der beste Weg, Bronn zu überzeugen?«
Mir verschlug es kurz die Sprache, und ich fixierte das Deck in dem unmöglichen Versuch, ein Loch hineinzustarren. Alles sah ich an, nur nicht seine sorgengetränkten Augen. Was wusste er schon darüber, wie ich mich fühlte? Gescheitert, erneut, aber noch lange nicht bereit, aufzugeben. »Wenn nicht so, wie sonst?«, schoss ich die Frage wieder zurück zu ihm, und gemeinsam mit dem Adrenalin rauschte die Wut durch mich hindurch. »Außerdem entsinne ich mich, dass du ebenfalls auf den Strömungen dieses Schatzes gesegelt bist. Nur, dass du dabei dein Schiff versenkt hast, während ich weiterhin im Rennen bin.«
»Ich habe mein Schiff nicht versenkt«, widersprach Taron und knirschte hörbar mit den Zähnen.
»Nein, bloß an einer Klippe zertrümmert«, mischte sich Gonar mit seiner trockenen Sachlichkeit ein und kniete sich neben mich. »Wenn Ihr entschuldigt, Fürst, aber ich versorge jetzt meine Kapitänin. Also zähmt Eure Streitlust, sonst findet Ihr die Spitze des entfernten Pfeils bald in Eurem Körper wieder.«
»Lässt du zu, dass er so mit mir redet?«, brauste Taron auf und deutete mit dem Finger auf den Ersten Offizier. »Auf meinem Schiff würde ich ihn dafür kielholen lassen.«
»Dem Schiff, das auf dem Meeresgrund liegt?«, entgegnete ich und legte den Kopf so weit in den Nacken, dass er an der Reling ruhte. »Hier wirst du ihm kein Haar krümmen. Fang an, Gonar. Je eher dieses verfluchte Stück Holz aus meinem Bein heraus ist, desto besser. Und du, Taron, sei still und lass ihn seine Aufgabe erfüllen. Sonst durchbohre ich dich persönlich mit diesem Pfeil. Verstanden?«
»Aye«, antworteten mir beide gleichzeitig, und mit einem Nicken gab ich meinem Ersten Offizier die Erlaubnis. Das Schiffsmädchen trat mit dem Eimer zu uns, der die Gabe der salzigen Fluten enthielt, und Gonar platzierte ihn sorgsam neben sich.
»Macht Platz«, wies er Taron an und sah aus seiner knienden Position zu ihm auf. »Kapitänin kommt auf diesem Schiff vor Fürst.«
Der Angesprochene wich ohne Widerspruch zurück, dafür gesellte sich Irema zu uns. »Vergib mir, Yara.«
»Da gibt es nichts zu vergeben.« Ich presste die Zähne zusammen und legte mich auf den Rücken. Mit ihrem ganzen Gewicht drückte Irema mich an den Schultern auf die Planken und tauschte einen kurzen Blick mit Gonar. »Jetzt fangt einfach an.«
Mein Erster Offizier nickte und beugte sich mit einem Messer in der Hand über das Bein. Mit einer fließenden Bewegung schlitzte er den Stoff auf und legte die Wunde frei. Ich schloss die Augen, aber das bewahrte mich nicht davor, den Knall zu hören, der so laut wie ein Pistolenschuss über das Deck tönte. Mit dem Splittern des Pfeilschaftes rasten Dutzende Dämonen durch das Bein, und von ihnen heimgesucht warf ich meinen Körper hin und her. Er drängte gegen Iremas Griff, und ich sah, wie sie die Zähne zusammenbiss und mich unnachgiebig hielt. Ein zorngeplagter Schrei vertrieb nicht nur die Wut, sondern auch den Großteil des Schmerzes, und ich gestattete den Tränen, aus ihren Gefängnissen in den Augenwinkeln auszubrechen.
»Geschafft.« Mein Erster Offizier hielt beide Enden des Pfeils in die Höhe. »Und jetzt die Heilung.« Er zückte ein sauberes Leinentuch und tauchte es in den Eimer. »Revodan, Gott des Meeres und der Piraten, erhöre mich. Deine Dienerin Yara sucht deine Kraft. Befreie sie von ihrer Wunde, verschone ihr Leben. Heile sie durch das Wasser, dein Blut, Herrscher der Wellen. Wir sind deine ergebenen Diener.«
»Deine ergebenen Diener«, wiederholten die Piraten gemeinsam und berührten die Stelle über ihrem Herzen.
Das eisige Wasser prickelte auf meiner Haut. Brennend drang das Salz in die offene Wunde, und das Meerwasser vermischte sich mit dem fließenden Blut zu einem roten Rinnsal, das das nackte Bein herabrann. Jetzt kam es darauf an, ob Revodan das Gebet ihm zu Ehren akzeptierte. Ob ich in seiner Gunst hoch genug stand, dass er mir seinen das Schicksal durchbrechenden Segen zuteilwerden ließ. Denn rief man den Gott mit seinem Namen und dem Wasser des Meeres an, kam er zu Hilfe, wenn ihm der Sinn danach stand. So, wie es an diesem Tag der Fall war.
Zuckend erwachte der mit Salzwasser durchtränkte Stoff zum Leben und schlang sich um mein Bein. Er zog sich fest und baute Druck auf, der den Schmerz jedoch nicht verstärkte, sondern ihn mit sich fortnahm. Gleißend dunkelblaues Licht brach aus der Wunde hervor, strahlte durch den Stoff und schloss die Heilung mit einem sanften Kitzeln ab. Als es verblasste, nahm es meine Leiden mit sich fort.
»Hab Dank, Gott des Meeres«, flüsterte ich, berührte die Stelle über meinem Herzen und presste die geballte Faust danach kurz an die Lippen.
»Du siehst aus wie neugeboren.« Taron hielt mir seine Hand entgegen. Ich verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen, nahm seine Geste aber an und legte meine Hand in seine. Seine warme Berührung bildete einen scharfen Kontrast zu meinen eiskalten Fingern und erweckte in mir gleichermaßen den Drang, ihn festzuhalten und mich seinem Griff zu entziehen. Ehe ich zwischen diesen Varianten entschied, packte Taron mich fester und zog mich hoch. Mit so viel Schwung, dass es mich noch einen Schritt nach vorn trieb und ich gegen seinen Oberkörper stieß.
»Hör auf damit«, zischte ich und zog die Hand fort. »Zurück an den Schrubber mit dir. Das Deck meines Schiffes glänzt am Tagesende wie die Sonne.«
»Das ist Edinas Aufgabe.« Taron deutete auf das Schiffsmädchen, und sie streckte ihm die Zunge raus.
»Nein.« Ich stemmte meine Hände in die Hüften. »Das ist es nicht. Weil ich es dir befehle. Komm schon, edler Fürst. Gib dir einen Ruck und verrichte Arbeit, so wie wir normalen Piraten auch.«
»Wie die Kapitänin befiehlt«, grummelte er und verschwand.
»Gonar!« Es war unnötig, meinen Ersten Offizier zu rufen, denn er stand bereits neben mir. »Die Karte.«
Aus einer Kiste zog er das gerollte Stück Pergament und glättete es vorsichtig. Auf ihr offenbarten schwarze Linien eine Gruppe von Inseln, so angeordnet, dass sie eine Sichel formten. Manche davon waren durchgestrichen, andere lagen erwartungsvoll offen und warteten darauf, dass wir ihnen ihre verborgenen Geheimnisse entlockten.
»Segel setzen!«, befahl ich. »Nach Osten. Wir werden Galmandurs Schatz finden.«
Zwei
Die Seile der Wanten bebten wie die gezupften Saiten einer Zither. Ich wich ihnen aus und balancierte weiter auf der Reling entlang. Rauer Seewind, erfüllt mit dem Salz des Meeres, strich über meine Wangen und zog verspielt an den rabenschwarzen, gewellten Haarsträhnen. Ich hob den Arm und ließ die Böen mich umwogen.
Die dünne Reling lag rau zu meinen Füßen. Mit den nackten Zehen ertastete ich jede Faser und schritt mit der Vorsicht eines Kindes vorwärts, das sich einem schlafenden Ungeheuer näherte. Unter mir in den kobaltblauen Wellen jagte lustig klickend eine Delfinschule durch die sich auftürmenden Fluten. Ich beugte mich ein Stück vor und ließ meinen Blick über die hellgrauen glatten Leiber gleiten. Wie frei sie doch waren, die Geschöpfe des Ozeans. Unabhängig in ihrer Entscheidung, zu schwimmen, wohin ihre Flossen sie trugen und zu verharren, an jedem Ort, der ihnen gefiel.
»Kapitänin?« Gonar riss mich aus den Tiefen meiner Gedanken zurück in die Realität und auf das sonnenbeschienene Deck der Botin.
»Was gibt es, Erster Offizier?« Ich sprang von der Reling, beugte die Knie leicht und landete geräuschlos auf den Bohlen. Keine Spur zeugte mehr davon, dass am vergangenen Tag mein Bein von einem Pfeil durchbohrt worden war.
»Die Crew bittet dich, unseren neuen Hilfsschiffsjungen kielholen zu dürfen.« Seine Hand ballte sich vor seiner Brust, und dunkel traten die Adern hervor.
Ein Schmunzeln breitete sich auf meinen Lippen aus. »Welchen Vergehens hat er sich schuldig gemacht?«
»Er kommandiert uns pausenlos herum, Kapitänin«, mischte sich Azra ein. »Glaubt, er sei etwas Besseres, nur weil er einen Titel besitzt. Ein ach so piekfeiner Fürst an Bord unseres Schiffes. Und nur darum sollen wir nach seiner Pfeife tanzen.« Die Kriegerin mit den tödlichen Wurfmessern erdolchte Taron quer über das Deck allein mit ihren Blicken. »Er braucht eine Strafe. Immerhin hast du hier doch das Kommando, aye?«
»Aye.« Ich nickte. Mein Rücken drückte sich durch, brachte mich in eine aufrechtere Position und schenkte mir zwei Zentimeter. Ohne mir die Stiefel wieder anzuziehen, eilte ich vom Bug in Richtung Hauptdeck und eine kleine Treppe hinab.
»Ausgezeichneter Plan.« Mariette nickte mir vom Steuerrad aus zu und hatte allein durch die Bewegung erkannt, wen mein Zorn treffen würde. Ich erwiderte ihren Blick ebenso grimmig, ehe ich bei dem ankam, der die Ordnung auf diesem Schiff gefährdete.
»Was, bei allen Hurrikans der Weltmeere, bildest du dir eigentlich ein?« Selbst brausend wie ein Sturm hallte meine Stimme über das Deck und jagte ein paar dösende Matrosen aus ihren Hängematten.
»Kapitänin?« Taron hielt den Mopp vor sich und blinzelte mir irritiert entgegen. Hinter meinem Kopf stand die Sonne, die ihn daran hinderte, aus meinem Gesichtsausdruck schlau zu werden.
»Du bist Gast auf diesem Schiff. Der Kaiser selbst hat dich zu mir geschickt. Als gewöhnlichen Piraten und nicht als Fürst oder Kapitän. Was also denkst du, tust du hier?«
»Yara …« Mein Name schob sich vorsichtig über seine Lippen, ertastete die Grenzen der Wut. Doch ich war nicht bereit, sie ihm so leicht aufzuzeigen.
»Nicht Yara. Kapitänin. Dieser Titel steht mir zu, bei Revodan nochmal. Denn dieses Schiff segelt unter meinem Kommando. Ich gebe meiner Crew Befehle, und nur ich. Ganz bestimmt werde ich nicht dabei zusehen, wie ein dahergelaufener Fürst sich hier als stellvertretender Piratenkaiser aufspielt und die gesamte Ordnung kentern lässt. Du befiehlst meinen Piraten nichts mehr. Und hast du etwas, das erledigt werden muss, erledigst du es selbst. Hast du das verstanden?«
Seine Kinnlade fiel nach unten, und dadurch glich sein Mund den aufgeblähten Netzen eines Fischerbootes. Er zwang sich zu einem Schlucken, so heftig, dass ich seinen Adamsapfel hüpfen sah. Die Verblüffung in seinem Gesicht schlug innerhalb zweier Atemzüge um und seine Augen funkelten zufrieden. »Du wirst eine perfekte Fürstin sein.« Er trat mit einem Fuß zurück, verbeugte sich tief. »Zweifellos. Es ist mir eine Ehre, unter dir zu segeln.«
Seine Worte näherten meine Wut wie Zunder die Flamme, gaben ihr das, was sie brauchte, um zum tobenden Inferno anzuwachsen. Doch ich sperrte sie in mir ein, denn als Kapitänin gab ich mich dem nicht hin. »Schluss mit dieser Posse. Und schrubb weiter das Deck!«, befahl ich ihm. »Gonar!«
»Kapitänin?« Mein Schatten tauchte zuverlässig auf.
»Sobald er nur einer der Schiffsratten etwas befiehlt, wird er kielgeholt.«
»Aye, aye.« Die pulsierende Ader an seiner Stirn zog sich wieder zurück, und er sandte Taron einen erwartungsvollen Blick zu. »Ich hoffe, das tut er. Und zwar bald.«
Ich stoppte, hielt ihm den Arm vor die Brust und hinderte ihn am Weitergehen. »Keine Provokationen, Gonar. Ich wünsche Frieden auf meinem Schiff.«
»Wie die Kapitänin befiehlt.« Er nickte. »Aber mit einer Sache hat dieser aufgeblähte Seegnom recht. Du wärst eine ausgesprochen fantastische Fürstin.«
»Yara!« Mein Name schallte vom Krähennest hinab auf das Deck und zersprang in tausende Splitter. Oben beugte sich Farnham, unser Kanonier, so weit über die Brüstung, dass er drohte, dem gerufenen Namen zu folgen. »Land in Sicht! In Richtung Backbord. Land in Sicht!«
»Gonar?« Mein Herz setzte einen Schlag aus. Gleich dem stockenden Zeiger einer Taschenuhr, bevor es lospreschte und mit seiner Geschwindigkeit den Wind selbst besiegte.
»Nein, Kapitänin. Verzeiht. Keine Insel auf der Karte.« Er hielt das Pergament vor sich, den letzten Bruchteil von Galmandurs Vermächtnis, und tippte mit dem Daumen auf die Stelle, an der wir uns befanden. »Nur der weite Ozean.«
»Ein Schiff, Kapitänin! Ein Schiff!« Farnham überschlug sich halb. Ich riss das Fernrohr aus meiner Tasche und zog es aus. Sandkörnchen rieselten aufs Deck und bildeten das letzte Überbleibsel der ersten Insel, auf der wir bis auf tonnenweise Sand vor allem eins nicht gefunden hatten: Galmandurs Schatz. Aber nun. Land auf der Strecke, die nicht kartografiert war. Die Hoffnung flatterte in mir wie ein Vogel in seinem Käfig.
Mit dem Fernrohr suchte ich den Horizont ab. Mein Blick glitt über die gischtgekrönten Wellen, bis er die Ausläufer eines hellen Strandes entdeckte. Schon nach wenigen Schritten erhoben sich dichtes Buschwerk und meterhoch aufragende Palmen in den Himmel, deren sattes Grün das Blau des Ozeans zerriss. Doch das war nicht, um was es mir ging. Ich suchte weiter, fuhr die Grenzen der Insel entlang und fand den auf den Wellen schaukelnden Bug.
Ein bauchig geschnittenes Schiff, das trotzdem nicht behäbig erschien und dessen vier Masten nur etwas weiter aufragten als die Wipfel der höchsten Palmen. Es lag tief im Wasser und trug kostbare Last, die reiche Beute für jeden versprach, der mutig genug war, es mit dem Koloss aufzunehmen. Doch das Wichtigste war, dieses Schiff ankerte eben vor der Insel, auf der ich den Schatz vermutete, der mich allein durch seinen Fund in den Rang einer Fürstin katapultieren würde. Zwei hoch aufgetürmte Wellen klatschten gegen den Bug des fremden Schiffes und drehten es. Es präsentierte mir seine Seite und damit den Namen, der knapp unter der Reling ins Holz gebrannt war.
»Dieser Bastard!« Ich schmetterte das Fernrohr auf das Deck und schrie meinen Zorn in den Himmel. Gonar zuckte zusammen, und die Karte entglitt seinen Fingern. Ich fing sie aus der Luft, zerknüllte sie in meiner zur Faust geballten Hand. »Dieser selbstgerechte, alles kontrollierende Zottelbart!«
Die Crew versammelte sich an der Reling und sah in Richtung des Grunds für meine Frustration. Mir war es egal, dass sie sich wunderten. Ich war die Kapitänin, und auf diesem Schiff durfte ich schreien und fluchen und so zornig sein, wie ich wollte. Taron bückte sich nach dem Fernrohr und erkannte die Ursache der Wut auf Anhieb. »Die Inferno«, murmelte er tonlos und warf mir, ob meiner harschen Worte, einen mahnenden Blick zu.
»Das Schiff des Kaisers?« Gonar riss das Glas direkt aus Tarons Händen und spähte selbst hindurch. »Bei allen endlosen Wasserfällen.«
»Das beschreibt es nicht einmal annähernd«, murmelte ich tonlos und klammerte mich an der Reling fest, aus Angst, meine Hände sonst um jemandes Kehle zu schlingen. »Mariette!«
Die Steuerfrau, selbst Teil der Menge, die vor Staunen nicht wusste, was zu tun war, riss ihren Kopf zu mir herum. »Aye, Kapitänin?«
»Bring uns zur Inferno. Und lasst ein Beiboot zu Wasser. Ich gehe an Land.« Die Crew stob auseinander wie ein Schwarm Möwen, gejagt von einem Seeadler. In alle Richtungen verteilten sie sich auf dem Deck, bereiteten den Landgang vor oder taten zumindest so, während sie weiter zu mir schielten. Aber ich kletterte ohne ein Wort in das im Wasser dümpelnde Beiboot.
Das Klatschen der eingetauchten Ruder und ihr monotoner Rhythmus über dem Rauschen der Wellen ließ mich tiefer in Gedanken versinken. Ich suchte nach Gründen, weswegen Bronn auf dieser Insel war. Mein Gehirn wanderte in tausend verschiedene Richtungen und folgte jedem noch so kleinen Pfad, nur um dann schnippend wie ein überdehntes Seil ins Hier und Jetzt zurückzukehren.
Knarzend bohrte sich der hölzerne Rumpf des kleinen Bootes in den hellen Sand und zog eine Schneise hinein. Der Bug hob sich leicht in die Höhe, ehe wir endgültig festsaßen, und kam zur Ruhe. Ich trat nach vorn und schwang mich auf die Insel, so energisch, dass die dunklen Stiefel bis zum Spann in dem lockeren Sand verschwanden. Der Säbel schlug gegen meine Hüfte, und ich spürte das Gewicht des Dolches in der Scheide am Rücken. Unbewaffnet eine fremde Insel zu betreten, war nicht nur Torheit, sondern denen vorbehalten, die den Tod suchten. Und auch, wenn mir bewusst war, dass ich diese Waffen niemals gegen das von Revodan gesegnete Oberhaupt einsetzen durfte, gab es doch nichts, was es verbot, es mir hundert Mal in Gedanken auszumalen.
»Irema. Verd.« Mein Kopf ruckte in Richtung des Dschungels, band die beiden an meine Fersen und verwandelte sie in Schatten. Auch, wenn die Wut ihre roten Schleier durch die Gedanken zog, schaffte sie es nicht, gleichzeitig die Vernunft niederzuringen.
Keine zehn Schritte entfernt ruhte ein zweites Boot auf dem Sand. Drei Piraten der Inferno lehnten daran und sahen zum Urwald, genau auf einen schmalen Weg, der, umgeben von dem dichten Buschwerk, kaum auszumachen war. Nur die Fußspuren tief im Sand verrieten, welche Richtung die vor uns Eingetroffenen eingeschlagen hatten. Eine meiner Hände ruhte am Griff des Säbels, mit der anderen strich ich die ersten Blätter aus dem Weg. Der Schatten unter den Wipfeln versprach aber keine Linderung von der prallen Sonne am Strand, sondern war durchtränkt von Feuchtigkeit und setzte sich auf Haut und Kleidung.
Die Fußspuren waren meine Führer, anhand derer ich mich durch das Grün schob, immer weiter auf das Zentrum der Insel zu.
»Was, bei allen panierten Pavianen, macht denn der Kaiser an so einem Ort?« Irema rümpfte die Nase, und das in ihren Händen hin und her wandernde Messer fing die wenigen Sonnenstrahlen ein, die es bis zum Boden schafften.
Ich hasste ihn. Hasste es, dass er mein Leben in seinen Händen hielt wie der Puppenspieler die Fäden seiner Marionette.
»Viel wichtiger, warum geht er von Bord?« Verd trat etwas nach vorn und bog den nächsten Ast für mich zur Seite.
»Lass das gefälligst. Ich schaffe das allein, verdammt!«, knurrte ich, schlug seinen Arm beiseite. Der Ast schnellte zurück und prallte gegen meine Rippen. Ich unterdrückte einen Fluch.
»Kapitänin? Welche Möwe hat dir denn in den Eintopf geschissen?« Irema schloss zu Verd auf, und sie klebten an mir wie das schweißdurchtränkte Hemd an meinem Rücken.
Er war hier. Schon wieder griff er in mein Leben ein. Hatte sogar ein Anrecht darauf. Das bildeten sich seine verdrehten Gedanken ein seit dem Tag, an dem er mich als sechsjähriges Mädchen von meinen Eltern fortgeholt hatte. »Ach, lasst mich in Ruhe«, fauchte ich, zückte den Säbel und hieb auf das Blätterwerk vor mir ein.
»Oh. Ich weiß es.« Verdariol grinste breit. »Hat es wieder damit zu tun, wie du unsere Kapitänin geworden bist?«
Ich schnaufte vor Wut und wirbelte zu den beiden herum. »Verdammt nochmal, ja. Hat es. Weil einfach alles mit diesem … diesem alten Mistkerl zusammenhängt.«
Irema tauschte einen irritierten Blick mit Verd. »Ich verstehe hier gerade in etwa so viel wie eine Koralle vom Kochen.«
»Er hat mir dieses Schiff geschenkt, nachdem Galmandur ihn zum Fürst ernannt hatte«, fuhr ich sie an. Und mir damit die Möglichkeit genommen, es mir selbst zu verdienen. Ich war eine Piratin, durch und durch. Bereit, meine eigenen Schlachten zu schlagen. Wieso sah er das nicht?
»Und jetzt«, Verdariol streckte einen Zeigefinger in Richtung Sonne, »ist er auf der Insel, wo wir den Schatz vermuten, der dich zur Fürstin macht, Kapitänin. Verdächtig.«
Es war nicht nur das, es stank zum Himmel.
Das Bersten eines Astes drang laut durch die Stille an mein Ohr. Ich hielt inne und ging etwas in die Hocke, drehte dabei den Säbel in der Hand. Das Metall schimmerte dunkel, durstig nach Blut. Verd und Irema verharrten in meinem Rücken so regungslos wie die Stämme der dicken Bäume.
Das Knistern von kleinen Steinchen unter Stiefeln, die nicht die meinen waren, kam näher und näher. Raschelnde Blätter, die sich durch harsche Handbewegungen beiseiteschoben und den Herumtreiber direkt vor uns aus dem Urwald spuckten.
»Kapitänin.« Seine braunen Augen lagen tief in den Höhlen, umrandet von dunklen Ringen. Falten, die sich um seine Augenhöhlen und den Mund tiefer ins Gesicht gegraben hatten als in meiner Erinnerung. Die Lippen spröde und rissig von der Sonne, dem Sand und dem Salz des Meeres, doch zu einem Lächeln verzogen. Ein zu vielen Zöpfen geflochtener, dichter Bart bedeckte die untere Hälfte seines Gesichts, war an den Seiten dabei, nach oben zu wachsen und sich mit dem von grauen Strähnen durchzogenen Haupthaar zu vereinen. Über die linke Wange lief bis hoch zum Haaransatz eine rote Narbe, wo sich einst eine Klinge tief in sein Fleisch gegraben hatte. Den Bronn, den ich vor drei Monden gesehen hatte, trennten Welten von der Ausgabe, die nun vor mir stand.
Ich verlor das Blickduell und schob den Säbel zurück. »Mein Kaiser.« Vor ihm beugte ich das Knie, sank nach unten auf den staubigen Urwaldboden und küsste den Saum seines Mantels. Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf, und ein Zittern verriet mir, über welchen Teil meines Rückens sein Blick gerade schweifte. Quälend langsam verstrichen die Sekunden. Die schweren Atemzüge von Irema und Verd durchbrachen hinter mir das wilde Sirren des Urwaldes. Die schwüle Luft legte sich dicht vor Mund und Nase und erschwerte das Atmen.
»Ihr dürft euch entfernen, Piraten. Lasst mich mit eurer Kapitänin allein.«
Die beiden protestierten nicht und taten damit genau das, was ich von ihnen erwartete. Wenn sie mir widersprachen, auf meinem Schiff, weil sie anderer Ansicht waren, akzeptierte ich es und hörte sie an. Aber der Piratenkaiser, Herrscher aller Piraten, war niemand, der einen offenen Widerspruch duldete und dafür Gliedmaße abtrennen ließ.
Ich schielte zu Bronn nach oben, sah ihm dabei zu, wie er mit schiefgelegtem Kopf auf die sich entfernenden Schritte lauschte, bis sie von den Geräuschen des Urwalds geschluckt wurden. »Kapitänin.« Das wohlwollende Grinsen troff sogar aus seinen Worten. »Du hast diese Insel schneller gefunden, als ich erwartet habe.«
Er ließ los, was er in der Hand hielt, und vor mir grub sich eine Holzkiste tief in den Staub des Urwalds. Der Deckel sprang auf und offenbarte ihren steinigen Kern. Ein Haufen Geröll.
»Lass mich raten.« Ich spie ihm die Worte zusammen mit meinem Hass entgegen. »Der Schatz von Galmandur.«
Comments