Tyrannische Götter.
Hüter, gesandt um sie zu verdammen.
Sie richteten die Tyrannen.
Die Gesandten verschwanden.
Ob sie ihr Werk vollendeten, blieb geheim.
Dennoch gingen sie in die Geschichte ein.
Und sie werden für immer verewigt sein.
Unter den Namen:
Licht.
Dunkelheit.
Schatten.
Prolog
Das Einzige, was zu hören war, war das Schnaufen der Männer, die zwei Kreuze hochzogen. Niemand aus der Menge sprach. Einer Menge, die so dicht aneinander stand, so viele hunderte Meter Schulter an Schulter, dass es niemandem gelang, dem Blut zu entkommen, das ihre Stiefel rot färbte.
Nur wenige hatten Tränen in den Augen, als sie die zwei Leichen an den Kreuzen erkannten. Diese wenigen wagten es nicht, sich zu wehren. Nicht mehr nach einem solch langen Kampf.
In den einst friedlich plätschernden Flüssen der Stadt Omnia, trieben leblose Körper in einer roten Flut, die weißen Häuser waren zu Ruinen geworden. Zerstörte Statuen versperrten jahrtausendalte Wege und hatten ebenso alte Bäume unter sich begraben. Die Stadt des Gleichgewichts und des Friedens war in den Mittelpunkt des Todes gerückt.
Langsam voller Anspannung teilte sich die Menge für drei Männer, die in gebrochener Haltung an Ketten zur Hinrichtung geführt wurden. Gerade als sie an der Spitze der Menge ankamen, im Schatten der Kreuze, richtete man diese mit einem letzten Ächzen in eine vertikale Position auf.
Die Köpfe der drei Männer zuckten hoch. Ihre Augen waren von den Tränen geschwollen, die Körper zerschunden und ihre Kleidung tiefrot. Sie blickten hoch zu ihren Freunden.
Dorian Castillen war der Erste in der Reihe und zog seine Freunde mit sich. Sein Körper zitterte.
Der zweite Mann namens Enijo Endôr hob schwach den Blick. Er bereute es noch im selben Moment wissen zu wollen, wohin diese Seile führten, denn im immer stärker werdenden Morgenlicht wirkten die toten Gesichter seiner Freunde dunkel verfärbt. Ihre Köpfe hingen herab, die Augen aufgerissen, wie als stünden sie noch immer ihrem Mörder gegenüber, die Lippen gespalten. Hätte Enijo gewusst, wer ihr Mörder war, er wäre sich nicht sicher gewesen, ob er noch die Kraft gehabt hätte, sich zu rächen.
Links von Enijo zuckte Antonio Valenti zusammen, als Blut auf seine Schulter tropfte. Ein Wimmern entfuhr dem Mann, als auch er es zum ersten Mal wagte, seinen toten Freunden über sich ins Gesicht zu blicken. Dann legte sich sein müder und trotziger Blick auf den Mann, welcher sich nun entspannt vor sie stellte.
Arijc Callôs war hochgewachsen, mit pechschwarzem Haar und schmalem Gesicht. Zumindest dachten das seine drei alten Freunde. Aber seit dem heutigen Tag hatte er etwas Fremdes an sich. Jegliche Narben von Wunden, die sie ihm vor sechs Jahren zugefügt hatten, waren verschwunden. Doch diese Eigenart war nicht die Veränderung, die sie am meisten verunsicherte. Selbst der Fakt nicht, dass er vor ihren Augen gestorben war, und auch nicht der irre Ausdruck in seinem Gesicht.
Es waren seine Augen.
Sie waren vor sehr vielen Jahren rehbraun gewesen. Stattdessen leuchteten sie nun voller Euphorie in einer Farbe von flüssigem Gold.
Schreie durchbrachen die Stille und ließen Arijc herumfahren.
Die Menge teilte sich erneut und gab einen blonden Mann frei. Die linke Hälfte seines Gesichts war vom Feuer rötlich verfärbt, die Pilotenjacke ebenso vom Blut getränkt wie die Kleidung der Verurteilten.
Caspar Jordån wehrte sich nicht. Er ließ sich vor den alten Freund führen, um ihn mit einem verachtenden Blick zu strafen. Man hatte Caspar die Handflächen aneinandergebunden, die einzige Art und Weise, einen Alienor daran zu hindern, seine Waffe erscheinen zu lassen. Mit gefletschten Zähnen wurde er auf die Knie gezwungen. Im Blick seiner silberblauen Augen lag purer Hass, als er zu Arijc hochsah.
Hinter ihm und den Kreuzen, im Kontrast zur aufgehenden Sonne, stand ein monumentales Bauwerk aus weiß glänzendem Marmor. Dessen jahrtausendealter ausgetretener Treppenaufgang war von vom Kampf zerstörten Statuen flankiert, deren Gesichter so leblos auf ihn herunterblickten wie die seiner toten Freunde.
»Ach, Cassy …«
Arijc streckte die schlanke Hand nach ihm aus.
Mit einer einzigen, kaum wahrnehmbaren Bewegung wich Caspar ihm aus. Arijc erstarrte. Mit seinem Blick durchbohrte er seinen alten Freund.
»Du hast schon einmal besser ausgesehen. Deine Schönheit«, er machte eine wegwerfende Bewegung, als würde er nach der passenden Beschreibung suchen, »ist irgendwie verschwunden. Wie ist das passiert?«
Caspar lachte kurz und zynisch auf. »Ha, ich weiß auch nicht, Archie. Vielleicht liegt es ja daran, dass ich seit zwei Tagen durchgekämpft habe und mit meinem Schiff abgestürzt bin. Aber ist bloß so eine Vermutung.«
»Ach, Cassy«, begann Arijc, verzog selbstgefällig die einst toten Züge und macht eine fahrige Handbewegung, »Dir werde ich nichts antun. Du warst damals nicht dabei.«
Ein Blitz durchfuhr Caspar, und er sah Arijcs Tod vor seinem inneren Auge. Bis aufs kleinste Detail war er ihm beschrieben worden. Es war wahr; an jenem Tag, vor sechs Jahren, war er als einziger der Freunde nicht dabei gewesen. Er ahnte, worauf der Totgeglaubte hinaus wollte, aber sein Herz musste es selbst hören. »Wovon sprichst du?«
Arijc trat auf die Seite und deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf Dorian, Enijo und Antonio.
Er genoss Caspars Reaktion. Und gab ein Zeichen.
Die drei Männer stöhnten, als sie an den Seilen hochgezogen wurden. Ihre Gesichter verzerrten sich unter den Schmerzen, die ihre angeschlagenen Körper erleiden mussten. Caspar traten Tränen in die Augen, als seine Lippen zitternd nach Worten suchten. Er konnte lediglich stumm mitansehen, wie seine Freunde hoch in die Luft gezogen wurden, bis sie auf selber Höhe mit Lennart und Lars, den Gekreuzigten, hingen. Sein scharfsinniger Verstand ließ nach, als er die beiden Toten erblickte.
Lennarts goldblondes Haar schimmerte im Morgenlicht rötlich und verbarg sein Gesicht. Obwohl sich Caspar gegen den Gedanken wehrte, sah er immer wieder seine grünen Augen. Er war nicht durch die Kreuzigung gestorben. Schon lange davor hatte man ihm ein Schwert in den Bauch gestoßen.
Lars, zu Caspars Rechten, war erschossen worden. Ein einziger Schuss, kalt, tödlich. Mitten durch die Brust. Das weißblonde Haar trug rote Schlieren, die grauen Augen starrten ins Leere.
Meine Freunde, dachte Caspar, wie konnte uns das passieren?
Die letzten Momente hatte Arijc jeden kleinsten Muskel in Caspars Gesicht beobachtet und wandte sich nun selbstgefällig zu Dorian um.
Schwer atmend lehnte er den Kopf an seine Schulter und blickte mit halb geschlossenen Liedern zu Arijc herab.
»Deine Frau hat gebettelt, Dorian. Um das Leben eurer Kinder.«
Aus Dorians Augen quollen Tränen, doch der Klang seiner Stimme verriet nichts davon. Aus ihr klang die pure Verachtung. »Ich hätte dich damals in deiner Gosse verrecken lassen sollen.«
»Ach, Dorian!« erklang begeistert die Antwort, »So kenn ich dich ja nicht! So schlecht gelaunt. Da erinnerst du mich ziemlich an Filli. Wo ist der überhaupt, hm?«
Caspar wartete gespannt auf Dorians Reaktion. Als er sich leicht bewegte, klickten die Waffen der Wächter hinter ihm.
Dorian lachte kalt auf. »Und wenn ich es wüsste, glaub mir du beschissenes Arschloch, ich würde es dir niemals sagen.«
Arijc gab ein tiefes, grollendes Lachen von sich und wirbelte zu Caspar herum. »Ach, ein ganz neuer Dorian! Was Schmerz und Leid mit einem Menschen anstellen können, interessant, findest du nicht?«
Als Caspar keine Antwort gab, machte Arijc zwei große Schritte in seine Richtung, packte ihn am Kragen und zog ihn hoch, bis ihre Gesichter Millimeter voneinander entfernt waren. Caspar stöhnte voller Schmerzen auf.
»Findest du nicht, Cassy?«
Caspar erstarrte. Niemals würde er sich die Blöße geben und vor seinem alten Freund mentale Schwäche zeigen. Dennoch suchte er etwas Vertrautes in seinen Zügen. Vergeblich.
»Gut«, flüsterte Arijc ihm ins Ohr, als Caspar weiterhin schwieg, »wenn du es so willst.«
Und ehe sich Caspar versah, gaben Arijcs Finger drohend den Befehl.
Eine Frau wurde aus der Menge gezogen, alle Waffen auf sie gerichtet. Ein kleiner Junge stolperte hinterher. Das hellblonde Haar war zerzaust und seine silberblauen Augen von Tränen strahlend und gerötet. Caspar schrie wie ein verletztes Tier auf.
Plötzlich wich alle letzte Kraft aus seinem Körper. Die stolze, aufrechte Haltung war verschwunden. Flehend suchte er Arijcs Blick. »Nein, … bitte nicht … Arijc.«
»Untertänigkeit, Cassy. Untertänigkeit«, sagte er und warf ihm einen langen Blick zu.
»Diese Lektion wirst du lernen müssen, wenn du mein Angebot annimmst. Untertänigkeit ist etwas Tolles, Caspar Jordån. Etwas, das einen retten kann. Oder noch besser … die Menschen, die man liebt.«
Langsam ließ er ihn wieder zu Boden. »Untertänigkeit.«
Caspar blieb mit gesenktem Kopf auf den Knien.
»Ich mache dir ein Angebot. Eine Wahl, die sich die anderen nur erträumen können, also entscheide dich nicht falsch.«
Er deutete mit einem Nicken hinter sich. Caspar sah wieder zu seinen Freunden hinauf.
Dorian lebte noch. Enijos Kopf bewegte sich leicht, doch es konnte auch einfach die Täuschung des Windes sein, der durch seine Locken strich.
Antonio schien tot.
Selbstgefällig stützte Arijc die Hände in die Hüften, verlagerte sein Gewicht auf das rechte Bein und legte den Kopf schief.
»Dir schenke ich eine wundervolle Wahl, wirklich. Und eines Tages wirst du mir dafür dankbar sein. Warum ich das tue?«
Ein schmales Lächeln umspielte seine Lippen, und er zuckte leicht mit dem Kopf. Ihr alter Freund hatte schon immer divenhafte Züge an sich gehabt. Hatte von den Freunden immer die umfangreichsten Geschichten erzählt, sie mit den ausschweifendsten Gestiken untermalt. Das hatten sie an ihm geliebt. Deshalb hatten sie miteinander gelacht, gefeiert, geweint.
Nun war es vorbei.
Aus Gründen, die nur Arijc selbst zu verstehen schien. Als er Caspar diese rhetorische Frage stellte, drehte er sich um, ging zu dem kleinen Jungen und kniete sich vor ihn hin.
Ängstlich versteckte sich das Kind hinter den Beinen seiner Mutter.
»Komm her, mein Junge«, sagte Arijc mit einer Stimme, die jeden um ihn herum verwunderte.
»Wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst, das schwöre ich dir, Arijc, werde ich dich töten«, knurrte die Mutter.
Mit einer beinahe unschuldigen Neugierde blickte der Mann zu ihr hoch.
»Du unterschätzt eine Frau, wenn sie ihr Kind beschützt.« Sie deutete Arijcs Gedanken richtig.
»Ach, Tinka. Glaube mir, ich unterschätze euch Frauen nicht, aber sieh nur, wer von euch allen noch übrig geblieben ist … .«
Diese einfachen Worte ließen Tinka zurückweichen, als ob er ihr pures Gift anbieten würde. Ihre Augen zuckten, und ihr Atem zitterte.
Arijcs kalter Blick reichte, um zu wissen, dass er sie alle hatte töten lassen.
»Ich gebe dir Recht: Ihr Frauen beschützt eure Kinder auf eine ganz eigene Art und Weise. Selbst wenn es keine Hoffnung mehr für sie gibt.«
Tinka zitterte. »Warum? Das Wie erspare ich dir. Sag mir nur, warum.«
Eine eigenartige, angespannte Stille legte sich über sie. Alle wussten, dass ein Thema aufgegriffen wurde, das normalerweise nicht erwähnt werden durfte. Arijcs Augen veränderten sich, wurden kurz dunkel und verletzlich. Dann erbost über seine eigene Schwäche, begann seine Stimme zu brodeln.
»Es ist nicht deine Schuld, Tink. Die deines Mannes zur Hälfte. Sie haben mir alles genommen, was ich je geliebt habe, und nun werde ich dasselbe tun. Ich habe es schon getan. Das nennt man Gerechtigkeit.«
Mit diesen Worten streckte er dem Jungen die Hand hin. »Ihm werde ich nichts tun. Genauso wie seinem Vater.«
Tinka schüttelte mit tränennassen Augen trotzig den Kopf. »Er muss schon selber zu dir wollen, Arijc. Zwingen werde ich meinen Sohn nicht.«
»Tinka«, warnte Caspar und schluckte die Tränen hinunter, die seine Stimme brechen ließen.
Arijc betrachtete das Gesicht des Kindes, und ein Ausdruck, den niemand der Anwesenden deuten konnte, legte sich auf seine Züge.
»Du siehst deinem Vater sehr ähnlich. Hast du deinen Vater lieb?«
Hinterhältig linste er zu Caspar hinüber, dessen Haltung sich nun änderte.
Tinka hielt angespannt den Atem an.
Arean blickte mit seinen großen blauen Augen zu seinem Vater, der mit verzerrtem Gesicht auf Arijcs nächsten Schachzug wartete.
»Ja.«
»Arijc, bitte. Nicht meinen Jungen«, flehte Caspar.
Dieser lächelte schmal bei dem Gedanken, wie schnell sein alter Freund die erste Lektion gelernt hatte.
»Möchtest du heute Abend auch eine Geschichte von deinem Vater hören?«
Der Junge wurde unsicher und drehte sich ängstlich zu seiner Mutter um. Energisch zog Arijc das Gesicht des Kindes wieder in seine Richtung.
»Möchtest du?«
Eine erschreckende Klarheit lag in den Augen des Jungen. Eine Erkenntnis, die für einen Sechsjährigen mehr als ungewöhnlich war.
Arean dachte nach. Mit festem Blick stellte er Arijc eine einzige, beinahe provozierend klingende Frage. »Was, wenn ich von Onkel Enijo eine Geschichte hören möchte?«
Arijc lächelte kühl und berechnend. »Onkel Enijo!«, rief er verächtlich. Er zog Arean grob am Arm hoch, sodass der Junge aufschrie, als seine Füße den Boden unter sich verloren. Die Mutter brüllte und versuchte sich loszureißen. Ein Schlag mit dem Schwertknauf auf den Kopf ließ sie zu Boden sinken.
»Dein süßer Neffe mit seinen strahlenden Augen möchte eine Gute-Nacht-Geschichte von dir hören! Wie findest du das, hm!? Du verdammter Geschichtenerzähler!«
Arijcs Stimme überschlug sich, doch Enijo rührte sich nicht mehr.
»Cassy, sieh nur, Enijo und Tonio scheinen von uns gegangen zu sein. Wie schade!«
Sein Blick war kalt, als er herumwirbelte. Den Jungen fest in seinen Armen haltend. Dieser wehrte sich und schrie.
Plötzlich ließ er das Kind fallen. Er warf es von sich wie ein Stück Abfall. Arean keuchte, als das Blut von seinen Knien auf das Pflaster tropfte. Noch bevor er anfangen konnte zu weinen, verharrte er stumm in seiner Haltung.
Es war totenstill. Caspar fixierte voller Entsetzen das Gesicht seines Sohnes.
Dem Jungen schien es die Sprache zu verschlagen, als er sich zitternd gegen die Kraft, die seinen Körper erfasst hatte, zu wehren begann.
Caspar verstand.
Arijcs rechte Hand war zu dem Kind gestreckt, welches sich langsam und starr in die Luft erhob.
Augenblicklich durchströmte Caspar eine schier unbändige Kraft, die ihm verhalf, gegen die Männer anzukommen, welche seine Fesseln hielten. Schnaubend wie ein Tier erhob er sich.
»Der Körper eines Kindes ist zerbrechlich, Cassy. Und du hast doch gehört, wie gerne er noch eine Geschichte hören würde. Oder willst du etwa, dass das hier die letzte Geschichte ist, die er kennenlernen durfte?«
»Was erwartest du von mir?«, fragte Caspar grollend.
»Werde meine rechte Hand und deiner Familie und dir soll es an nichts fehlen.«
Caspar Jordån willigte ein, nichts ahnend, dass er nicht nur das Schicksal seiner Familie besiegelte.
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