LUANA
Niedergebrannte Brücken
Ponti bruciati
Ein Wunder, dass der Schrittzähler an meinem Handgelenk noch nicht heiß gelaufen war. Am fünfzigsten Geburtstag meines Vaters hatten meine Mutter und ich alle Hände voll zu tun, um die Überraschungsparty vorzubereiten. Und die Julihitze trug ihr Übriges dazu bei, uns ins Schwitzen zu bringen. Ich war gefühlte zwanzig Mal im Keller gewesen, um Getränke kaltzustellen, Deko und Stühle hochzuholen oder den Kuchen dort zu verstecken.
Mama war das reinste Nervenbündel. Wir hatten nur noch eine halbe Stunde Zeit, bis Papa von der Arbeit kommen würde, und sie rannte kopflos zwischen Wohnzimmer und Küche herum.
»Er wird es hassen … hat er jemals zu dir gesagt, dass er Überraschungen mag?« Sie ließ hilflos den Kopf hängen, wobei ihre halblangen, dunkelblonden Locken über die Schultern nach vorn rutschten. Es war herzzerreißend, wie aufgeregt sie auch nach all den Jahren Ehe noch war.
Ich warf die Luftschlangen auf den Tisch und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Er wird sich freuen, glaub es mir. Er hat zwar nie zu mir gesagt, dass er Überraschungen mag, aber auch nicht das Gegenteil behauptet. Und mal ehrlich, wenn er deine Torte sieht, wird er sowieso nicht anders können, als das alles hier zu lieben, Mama. Schon allein deshalb, weil du dir so eine Mühe gegeben hast.«
»Danke, Luana. Ohne dich hätte ich das alles nicht geschafft. Ich habe einfach kein Händchen für Deko.« Sie schüttelte über sich selbst den Kopf.
Ich tippte ihr mit dem Finger an die Schulter. »Dafür umso mehr für Kuchen. Die Torte ist der absolute Hammer.«
Mama lächelte stolz. Sie war extra lang wachgeblieben gestern Nacht, um eine Torte in Form einer Fünfzig zu backen, die mit Marzipan überzogen und mit verschiedenen Zuckerfiguren verziert war, die die Lebensstationen meines Papas darstellten. Eine Schultüte, ein paar Bücher, ein Ehepaar, ein Baby, Pokerkarten, eine Palme für ihre Reisen und ein Haus. Am Ende stand eine Fünfzig als Geburtstagskerze.
»Danke, Schätzchen. Es zahlt sich eben doch aus meinem Chef ab und zu beim Backen und Dekorieren über die Schulter zu schauen. Seine Tipps waren Gold wert.« Sie umarmte mich und zog mir ein Stück einer Luftschlange aus meinen Haaren, das sich dort beim Aufhängen verfangen hatte. Ich hatte meine langen braunen Locken zu einem Dutt auf dem Kopf zusammengebunden, um sie beim Dekorieren aus dem Weg zu haben. »Du musst unbedingt ein Foto von seinem Gesicht machen, wenn er gleich kommt, ja?«
Ich nickte. Wir wurden vom Klingeln an der Tür unterbrochen. Mama eilte in den Flur und ließ meinen Onkel und meine Tante, ihre dreijährigen Zwillinge und zwei von Papas Poker‑Freunden herein. Sofort war das Haus voller Leben. Nach und nach kamen die ersten Arbeitskollegen an, die die frühere Schicht in der Bank beendet hatten. Gegen halb sieben hörten wir den Audi meines Vaters in die Einfahrt fahren und baten alle, leise zu sein.
Das Klimpern seines Schlüsselbunds an der Haustür durchdrang einen Moment später die Stille. Mama und ich tauschten einen letzten, siegessicheren Blick aus.
»Renate?«, rief Papa aus dem Flur und meine Cousins kicherten leise.
Ich kniete mich neben die beiden und hielt mir den Zeigefinger an die Lippen. Sie legten sich synchron die Hand vor den Mund und wagten nicht einmal mehr zu blinzeln.
»Ja, ich bin im Esszimmer, Thomas«, antwortete Mama.
Ich zückte das Handy, bereit, die Reaktion meines Vaters zu fotografieren.
»Werde ich noch nicht mal an meinem Geburtstag an der Tür begrüßt? Das wird ja immer schöner hier.« Sein gespielt ernster Tonfall ließ mich lächeln. Typisch Papa. Leise Schritte näherten sich der angelehnten Tür. »Was machst du eigentlich im Esszi…«
Seine Frage wurde von unserem lautstarken »Überraschung!« unterbrochen. Schnell schoss ich eine Serie von Fotos seines Gesichtsausdrucks, der in Windeseile von geschockt zu gerührt überging und schließlich zu bis über beide Ohren grinsend wechselte. Einen Moment lang sagte er nichts. Dann eilte er auf meine Mutter zu und schloss sie in die Arme. Die Szene ließ eine wohlige Wärme in meinem Bauch entstehen, und ich blinzelte eine kleine Träne weg.
»Alles Gute zum Geburtstag, Schatz.«
»Danke, Liebling«, erwiderte er und küsste sie auf die Wange.
Mama führte ihn zum Tisch, auf dem zwei Kuchen und die Torte standen. Gemeinsam mit den Gästen nahmen wir Platz.
Als Papa die Torte sah, holte er sein Handy hervor und machte Fotos von allen Seiten. »Das ist ja der Wahnsinn. Wo habt ihr die denn bestellt?«
Ich grinste. »Mama hat sie selbst gemacht. Gestern Nacht. Sie könnte ihrem Chef Konkurrenz machen, wenn du mich fragst.«
»Das kannst du laut sagen. Die ist fast zu schade zum Essen.« Er blickte meine Mutter über den Tisch hinweg liebevoll an.
»Doch, wir wollen aber Kuchen!«, riefen die Kinder im Chor, und alle lachten.
Mein Vater schnitt vorsichtig die Torte an und gab Mama das erste Stück, bevor er weitere an die anderen Gäste verteilte.
Ich goss in der Zwischenzeit allen einen Kaffee oder Tee ein und lehnte mich zurück, um die Szene zu beobachten und den Kuchen zu genießen. Es herrschte eine rege Diskussion über das Leben meines Vaters, das die verschiedenen Zuckerfiguren und Formen darstellten. Meine Cousins und die Kinder von Papas Arbeitskollegen hatten den Kampf darum eröffnet, wer die meisten Figuren von den Erwachsenen geschenkt bekam.
Unsere Überraschungsparty war ein voller Erfolg. Gott sei Dank. Dennoch ärgerte ich mich darüber, dass eine bestimmte Person fehlte, weil die Arbeit mal wieder wichtiger war. Mein Freund Carsten hatte mir vor einer Stunde eine Nachricht geschrieben, dass er länger bleiben musste. Wie jeden zweiten Tag mittlerweile. Ich hatte es für das Beste gehalten, nicht zu antworten. Ansonsten wäre das Handy wahrscheinlich explodiert, so wütend, wie ich war. Nicht einmal am verdammten fünfzigsten Geburtstag meines Vaters konnte ich mich auf ihn verlassen. Ich schob die Gedanken an ihn von mir weg und unterhielt mich stattdessen mit den Gästen und meinen Eltern.
Gegen zehn Uhr klingelte es an der Tür. Zehn! Das ist nicht sein Ernst! »Ich geh schon, das ist bestimmt Carsten.« Es verlangte mir einiges an Schauspieltalent ab, normal zu klingen und nicht mit den Augen zu rollen.
Wie erwartet stand er auf der Türschwelle. Er hatte seine blonden Haare glatt nach hinten gegelt und trug noch seine Arbeitskleidung. Eine dunkelblaue Anzughose und ein hellblaues Hemd. Die Krawatte hatte er Gott sei Dank ausgezogen, und sein Jackett hing locker über seinem Unterarm. Trotzdem wirkte er overdressed, hier neben den Luftschlangen und Girlanden. »Hi, Darling!« Als wäre nichts gewesen, beugte er sich zu mir herunter und küsste mich so flüchtig, dass seine Lippen nur für eine Sekunde meine berührten. Oder einen Sekundenbruchteil. Jedenfalls nicht lang genug, um die Enttäuschung über ihn einzudämmen.
»Hi. Wo warst du denn? Es ist zehn! Die ersten Gäste sind gerade schon gegangen«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne und deutete mit dem Kopf in Richtung Esszimmer, damit er schnell hereinkam.
»Es tut mir ja leid, aber die Konferenz war wichtig. Ein Großteil des nächsten Monatsgewinns hängt davon ab.«
Ich schnaubte. Bei ihm hörte es sich immer an, als würde die Firma seines Vaters jeden Moment den Bach heruntergehen. »Ja, ja.«
Er beachtete meine Reaktion nicht weiter, sondern begrüßte meine Eltern wie gewohnt herzlich, beglückwünschte Papa und quasselte sofort drauflos, wie anstrengend sein Tag gewesen war. Darauf überschlugen sie sich fast mit Komplimenten, wie toll es doch wäre, dass er es trotzdem noch geschafft hatte, zu kommen. Meine Eltern waren Carstens größte Fans.
Gegen elf Uhr verabschiedeten sich die letzten Gäste. Als wir allein waren, wandte sich Papa an meine Mutter. »Danke für die Party, mein Schatz. Mit so etwas hätte ich nie im Leben gerechnet.« Er nahm ihre Hand und zwinkerte ihr zu.
»Das habe ich gern gemacht. Aber ohne Luana wäre das hier in einem Chaos geendet, das sich gewaschen hat. Sie hat heute so viel geschleppt, dekoriert und vorbereitet.« Mama sah zu mir und lächelte. Ihre Dankbarkeit tat mir gut und dämmte die Wut kurzzeitig ein.
Carstens Arm lag auf der Lehne meines Stuhls, und er zeichnete gedankenverloren kleine Kreise mit dem Daumen an meinen Rücken. Und wenn ich gedankenverloren sage, dann meine ich gedankenverloren. Seine Gedanken sind nämlich bei seinem Handy, nicht bei mir.
In der rechten Hand hielt er sein Smartphone und warf immer wieder einen Blick darauf.
Mein Vater richtete seine Aufmerksamkeit auf mich. Wenigstens einer. »Danke, Mäuschen!« Er stand auf, schritt um den Tisch herum zu mir, und ich erhob mich ebenfalls, um ihn zu umarmen.
»Für dich doch immer, Papa. Ich hab dich lieb«, sagte ich leise. »Ich gehe ins Bett, okay? Bin hundemüde.«
»Klar, nach der Schlepperei. Schlaf gut, ja?« Er löste sich von mir und küsste mich auf die Wange.
»Nacht, ihr beiden. Feiert noch schön.« Ich wandte mich an Carsten. »Kommst du mit ins Bett?«
Er nickte nur.
So schnell, wie es meine müden Füße zuließen, trottete ich die Treppen hoch, zog mich um, putzte mir die Zähne und schleppte mich ins Bett.
Carsten legte sich kurz danach zu mir. Seine Hand strich über meinen Rücken, gefolgt von einem Kuss zwischen die Schulterblätter. »Darling?« Seine Stimme klang rau. Ich kannte diesen Tonfall und wusste, was er vorhatte. Bitte nicht jetzt.
»Ja.« Ich drehte mich zu ihm um.
»Ich liebe dich. Es tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin und du so viel allein vorbereiten musstest.«
»Schon okay.« Kann ich jetzt einfach schlafen?
»Darf ich es wiedergutmachen?«, hauchte er, und seine Hände wanderten über den Stoff meines Pyjama‑Tops.
»Heute nicht mehr. Mir fallen schon die Augen zu.« Ich küsste ihn und drehte mich von ihm weg. »Schlaf gut.«
Er grummelte etwas, das ich nicht verstand, und keine fünf Minuten später schlief er. Schneller als ich. Wie oft, wenn ich übermüdet war, fand ich doch nicht in den Schlaf und hing stattdessen meinen Gedanken nach.
Jedes Mal, wenn meine Eltern sich so ansahen wie heute, als Papa die Tür hereingekommen war, überfiel mich eine beklemmende Gewissheit. Carsten und ich hatten nicht den Hauch einer Chance, jemals so glücklich zu werden wie sie. Seit über zweiundzwanzig Jahren waren sie ein Paar, obwohl damals jeder in ihrem Umfeld an der Beziehung gezweifelt hatte. Wer gibt einer jungen Liebe schon eine Chance, wenn so schnell Nachwuchs unterwegs ist? Die Schwangerschaft meiner Mutter kam unverhofft, doch meine Eltern hatten alle Zweifler hinter sich gelassen und waren seither unzertrennlich. Beneidenswert.
Carsten und ich hingegen tippelten durch ein Minenfeld, und es war nur eine Frage der Zeit, bis einer von uns einen falschen Schritt setzte. Vor einem Jahr war er alles gewesen, was ich mir je erträumt hatte. Wir hatten Spaß, verstanden uns gut, und er trug mich auf Händen. Auch äußerlich war er mir damals sofort aufgefallen. Ein großer, blonder Sonnyboy mit dunkelblauen Augen und einem sympathischen Lächeln. Eindeutig der Traum aller Schwiegermütter. Im Laufe des Jahres hatte sich das nahezu perfekte Gesamtpaket aber als Mogelpackung im Workaholic‑Mantel herausgestellt. Ich hatte das Gefühl, er war nie ganz bei mir. Immer gab es etwas, das seine Aufmerksamkeit mehr verdient hatte als ich. Seine Arbeit, sein Tennisverein … oder seine Lieblingsserien.
Ich drehte das Gedankenkarussell eine Runde weiter und rief mir die schönsten Momente des Abends in Erinnerung. Mit der Umarmung meines Vaters und den Worten meiner Mutter im Hinterkopf schlief ich endlich ein.
Meine Eltern waren am nächsten Tag mit einem befreundeten Pärchen verabredet, Carsten nahm an einem Tennisturnier teil, und ich konnte nach dem Trubel gestern einen ruhigen Tag allein verbringen. Ich schlief ewig, brachte dann die letzten Stühle von der Party die Treppe hinunter und startete einen Netflix‑Marathon. Normalerweise war ich am Wochenende meistens mit meiner besten Freundin Romina und unseren Freunden Jan und Simon unterwegs, aber Romina verbrachte ihren Urlaub in Florida und hatte sich vorgenommen, ihr Handy ausgeschaltet zu lassen. Jan und Simon waren in Paris zu ihrem ersten gemeinsamen Städtetrip. Gestern hatte ich eine Abschiedsnachricht geschrieben und ihnen viel Spaß in der Stadt der Liebe gewünscht. Beim Gedanken an ihre Antwort, die aus mindestens zehn Herz‑Emojis bestand, lächelte ich automatisch. Die beiden waren zuckersüß zusammen.
Gegen sieben Uhr saßen wir beim Abendessen. Carsten war nach seinem Turnier direkt zu seinen Eltern gefahren, weil er ihnen versprochen hatte, bei der Renovierung der Küche zu helfen. Insgeheim war ich froh, den Abend gemütlich ausklingen lassen zu können, ohne mir haarklein jeden Ballwechsel und jeden Matchball des Turniers anhören zu müssen.
Papa unterbrach meine Gedanken. »Luana, kannst du mir das Gurkenglas geben?« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des überdimensionalen Behälters mit den pickeligen, grünen Ausgeburten der Hölle darin. Wie kann man das freiwillig essen?
Ich reichte ihm das Glas mit spitzen Fingern und sah angewidert dabei zu, wie Papa mit der Gabel darin herumstocherte.
»Falls du irgendwann mal Gurken essen solltest, wissen wir auf jeden Fall, dass du schwanger bist, Mäuschen.« Mama grinste über ihren eigenen Witz, und Strähnen ihrer Locken fielen ihr in die Stirn, als sie sich wieder dem Belegen ihres Brotes widmete.
»Ach, sprichst du da etwa aus Erfahrung?«, fragte mein Vater, und für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie sich so an, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich es geschockt nennen. Papa blinzelte ein paar Mal und senkte seinen Blick auf den Teller.
Mama räusperte sich. »Das weißt du doch. Du … hast sie mir doch immer mitgebracht.«
Er kratzte sich am Kinn und fuhr sich durch seine kurzen, blonden Haare. »Ach, ja … stimmt.«
Noch einmal tauschten sie einen ungewohnt ernsten Blick aus. Hier ist eindeutig was faul! Aber was?
»Wie geht’s Carsten eigentlich? Wir hatten gestern kaum Gelegenheit, mit ihm zu sprechen«, beendete meine Mutter das Thema, aber ich hing weiterhin in der Gedankenschleife fest. Mein Vater war kein Mensch, der solche Dinge vergaß. Im Gegenteil, er kannte sogar Mamas Kleidergröße und ihre Lieblingsschokolade.
»Na ja, er hat viel zu tun. Wie immer«, sagte ich beiläufig und verdrehte die Augen.
Gegen zehn Uhr verzog ich mich in mein Zimmer. Der wolkenverhangene Himmel, der ein Sommergewitter ankündigte, machte es mir unmöglich, mich heute vor das Teleskop zu setzen und in die Sterne zu schauen, wie ich es bei klaren Sichtverhältnissen tat. Also verbrachte ich den Abend mit einer Folge Lucifer. Na ja, zwei oder drei. Wie das eben so ist. Ich ließ die Tür einen Spaltbreit offen. Geschlossene Türen engten mich ein. Es war keine Klaustrophobie, aber ich fühlte mich definitiv wohler, wenn ich nicht in einem geschlossenen Raum war. Ich band meine dunkelbraune, lange Lockenmähne zu einem Pferdeschwanz im Nacken zusammen und ließ mich auf das Bett fallen. Das Gemurmel meiner Eltern, das ich von unten hörte, beruhigte mich. Anscheinend hatten sie den Vorfall am Tisch vergessen, was auch immer das gewesen war.
Gerade als ich die bequemste Liegeposition aller Zeiten gefunden hatte und auf dem Bildschirm die heißeste Szene der ganzen Serie lief, meldete sich meine Blase. Typisch! Ich schnaubte und hielt den Stream am Fernseher an.
Auf dem Rückweg vom Bad in mein Zimmer schnappte ich aus der Küche Gesprächsfetzen meiner Eltern auf, die mich mitten in der Bewegung stocken ließ.
»Findest du nicht, wir sollten es ihr doch sagen, Renate?«, fragte Papa gerade so laut, dass ich es oben hören konnte.
Was zur Hölle? Das Blut gefror mir blitzschnell in den Adern.
»Das kommt nicht infrage! Sie wird es uns nie verzeihen.« Meine Mutter klang so zittrig, wie ich sie noch nie gehört hatte. »Verdammt, du hättest dich besser im Griff haben sollen! Wenn sie eins und eins zusammenzählt, merkt sie doch, dass was nicht stimmt.« Bingo! Hundert Punkte und ein Klappfahrrad gewonnen.
»Jetzt schieb mir nicht die Schuld in die Schuhe! Ich muss dich nicht dran erinnern, wer das alles verbockt hat, oder? Wer zu lang gebraucht hat, um damals die Karten auf den Tisch zu legen und ihn zu verlassen?« Die Stimme meines Vaters war eisig.
Ich stand immer noch wie angewurzelt an der Treppe. So langsam, dass es mir in jeder Faser meines Körpers wehtat, stieg ein grausamer Verdacht in mir auf. Was, wenn …?
»Thomas, jetzt hör mit den alten Geschichten auf! Vergiss nicht, was wir uns damals versprochen haben.«
Ein Schnauben entfuhr ihm. »Ja, damals, … da war ich so verliebt in den Gedanken, eine Tochter mit dir großzuziehen, dass ich keine Sekunde daran gedacht habe, was passiert, wenn sie älter wird und die Wahrheit erfährt.«
Der Boden unter meinen Füßen bebte. Ich hielt mich am Treppengeländer fest und atmete so tief ein, wie es meine Lunge zuließ. Sie schnürte sich qualvoll zu und kämpfte gegen die Luft an, die in sie hineinströmte.
»Sie muss es nicht erfahren.« Mama sprach jetzt mit sanfter Stimme, aber für mich war jedes Wort ein Messerstich. »Du bist ihr Vater, Schatz. Der beste, den sie sich wünschen kann. Egal, wer ihr Erzeuger ist.«
Tränen bahnten sich den Weg über meine Wangen, bevor ich überhaupt bemerkt hatte, dass ich weinte. Ich unterdrückte ein Schluchzen, was mein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzog. Hitze stieg in mir auf. Mit zitternden Händen wischte ich die bitteren Tränen weg. Meine Beine gaben langsam unter mir nach, und ich sank in die Hocke. Im Schnelldurchlauf zogen Bilder aus meiner Kindheit vor meinem inneren Auge vorbei. Mein erster Tag im Kindergarten, meine Einschulung, die Zeugnisverleihung nach dem Abitur, die bestandene Führerscheinprüfung … immer hatten mich meine Eltern mit diesem Stolz im Blick begleitet, der Geborgenheit durch meinen Körper schickte. Konnte das wirklich alles eine Lüge gewesen sein?
Ich hatte mich nie darüber gewundert, die Einzige von uns mit dunkelbraunen Haaren und braunen Augen zu sein. Die Einzige, die selten Sonnenbrand bekommt und die … ihrem Vater überhaupt nicht ähnlich sieht. Ich hatte die recht schmale Gesichtsform meiner Mutter und die Rundungen an den richtigen Stellen hatte sie mir ebenfalls vererbt. Doch von Papa konnte ich nichts an mir erkennen.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Und dann in die Magengrube. Nein. Es war schlimmer. Als ob jemand mein Herz aus meiner Brust reißen und es zerquetschen würde.
Die dritte Treppenstufe knarzte wie immer unter meinem Fuß. Doch heute hatte es etwas Verheißungsvolles an sich. Achtung, ich komme. Setzt eure verdammten Masken wieder auf!
»Ah, Mäuschen, kannst du nicht schlafen?«, fragte der Mann, der bis vor ein paar Minuten noch mein Vater gewesen war. Und von dem ich mir nichts mehr wünschte, als dass er es wirklich wäre.
Ich brachte nur ein Kopfschütteln zustande.
Mama und »Papa« tauschten einen Blick aus und widmeten sich danach wieder dem Ausräumen der Spülmaschine. Wie können sie so abgebrüht sein? So … hinterhältig? Fassungslos ließ ich mich auf meinen Platz am Küchentisch fallen. Obwohl es schon spät war und ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, hätte ich nicht ins Bett gehen können, ohne es anzusprechen. »Wieso?«, zischte ich. »Wieso … habt ihr … es mir nie gesagt?« Meine Stimme wurde leiser, bis nur noch ein Hauch meinen Mund verließ. Meine Augen brannten verdächtig.
»Was denn, Schatz?«, säuselte meine Mutter. Das war zu viel.
Ich sprang auf und taxierte sie mit einem Blick, der sie auf der Stelle umgebracht hätte, wenn das hier ein Fantasy‑Roman wäre. »Verkauf mich nicht für dumm, Mama! Ich kann eins und eins zusammenzählen, wie du ja so treffend behauptet hast.« Mein Todesblick wandelte sich in einen jämmerlichen Wasserfall aus Tränen, und ich konnte eine gefühlte Ewigkeit nicht sprechen. »Wer ist es? Wer ist mein Vater?«, brachte ich dann mit kehliger Stimme hervor. Unwillkürlich schweifte mein Blick zu … Thomas. Zu meinem Papa. Bis heute.
»Luana«, sagte er ruhig und auch er hatte feuchte Augen.
Ich drehte mich von ihm weg. Kein Mitleid. Nicht eine Sekunde. Was soll dieser Vorname eigentlich? Das hatte mich schon immer gewundert. Die Erklärung meiner Mutter, dass sie ein großer Italien‑Fan wäre und ihn dort im Urlaub öfter gehört hatte, war mir stets lächerlich vorgekommen. Wer gibt einem Kind in Deutschland so einen Namen, wenn er nicht … selbst … Italiener ist?
Wieder wackelte der Boden unter der Gewissheit, die über mich hereinbrach.
»Dürfen wir es dir in Ruhe erklären? Bitte. Danach kannst du von mir aus für den Rest deines Lebens wütend sein, aber hör uns zu«, bat Papa mich.
Ich verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte meinen Kopf darauf ab. Mein Kinn senkte und hob sich so sanft, dass nicht einmal ich mir sicher war, ob die beiden mein Nicken erkannt hatten. Eine Träne nach der anderen rann meine Wangen und dann den Arm hinunter. Sie hinterließen eine kribbelnde Spur auf der Haut, aber ich widerstand dem Drang, sie wegzuwischen. Meine Eltern sollten sie sehen. Jede Einzelne.
Mama seufzte und faltete die Hände, bevor sie das Wort ergriff. »Es tut mir so leid, Luana.«
»Spar dir das!«, fuhr ich sie an. Ich hatte keine Nerven für Entschuldigungsfloskeln. »Sag mir einfach die Wahrheit. Wenigstens heute. Hat ja nur zweiundzwanzig Jahre gedauert.«
Sie presste die Lippen aufeinander, und ihre Augen glänzten. Normalerweise konnte ich die Menschen, die ich liebe, nicht weinen sehen. Heute sollte sie leiden. Mindestens so sehr wie ich, wenn das überhaupt möglich war. Die Welt, wie ich sie gekannt hatte, gab es nicht mehr. Alle Brücken, die meine Familie und mich verbunden hatten, waren niedergebrannt, und sie selbst hatte das Feuer gelegt.
»Ich war damals so alt wie du jetzt«, sprach meine Mutter mit zitternder Stimme. »Dein … leiblicher Vater …« Diese Bezeichnung ließ meinen ganzen Körper unter einem heftigen Schluchzer erbeben. »und ich … wir waren zu der Zeit ein Jahr zusammen. Er war ungeduldig, wollte mich heiraten und eine Familie mit mir gründen. Zwischen uns lagen acht Jahre Altersunterschied. Er stand mit beiden Beinen im Leben, wollte sogar einen Laden eröffnen, und ich … na ja, ich war Studentin. Hatte noch keinen Plan, was ich erreichen möchte oder wo das Leben mich hinführt. Ich war einfach nicht bereit für diesen Schritt, fühlte mich aber geschmeichelt von seinen Plänen. Ihm zuliebe habe ich zugestimmt und ihn geheiratet. Kurz danach wurde ich schwanger.« Mama schnaubte laut, als läge dieser Teil ihrer Vergangenheit wie ein Felsbrocken auf ihrer Brust. Die Schwangerschaft war nicht die Krönung ihrer Liebe gewesen, sondern ein Dolchstoß, der alles zerstört hatte. Und ich war der Dolch. Die süße Geschichte meiner Eltern, wie sie den Skeptikern trotzten, die ihrer Beziehung keine Chance gegeben hatten, fiel wie ein Jenga‑Turm in sich zusammen, nachdem jedes ihrer Worte einen Stein aus der Mauer der Lügen gezogen hatte. Nur mit Mühe hörte ich meiner Mutter weiter zu.
»Wir haben uns nur noch gestritten. Über die Zukunft, über einen Namen für dich, meinen Nachnamen, den ich behalten hatte, den Haushalt, seine Pläne … und Kleinigkeiten, die sich hochgeschaukelt hatten. Als du da warst, habe ich um des Friedens willen dem hier eher unbekannten Vornamen zugestimmt, wenn du meinen Nachnamen bekommst. Es gab trotzdem Diskussionen, weil das damals noch nicht lange üblich war und seinen Stolz verletzt hat. Aber für mich hat es sich so richtig angefühlt. Ich hatte gehofft, die ewigen Diskussionen bessern sich nach der Geburt.« Sie seufzte und schien völlig in der Vergangenheit versunken zu sein. Mamas Lippen waren nur noch ein schmaler Strich und ihre Augenbrauen so fest zusammengezogen, wie ich es noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte.
Papa nahm ihre Hand. Blinzelnd schien sie wieder in der Realität anzukommen. »Kurz nach der Hochzeit habe ich Thomas kennengelernt. Zum ersten Mal ist mir klar geworden, wie schön alles sein könnte. Dein leiblicher Vater hat es noch nicht einmal geschafft, bei der Geburt dabei zu sein.«
Ich schreckte auf. »Moment mal. Das heißt, du hast ihn betrogen? Als du noch schwanger warst?«
Mamas Blick verdunkelte sich noch mehr. »Nein. Im Gegenteil, ich habe die Gefühle für Thomas nicht zugelassen. In der Hoffnung, das Verhältnis zu deinem Vater bessert sich nach der Geburt, habe ich ihm noch eine Chance gegeben, die er nicht genutzt hat. Drei Monate später habe ich ihn verlassen, und er ist kurz danach in einer Nacht- und Nebelaktion nach Italien – also nach Siena – zurückgegangen. Seitdem habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.«
Ich weiß nicht, wie viele Tränen sich mittlerweile auf meinem Unterarm gesammelt hatten. Er fühlte sich nass und kalt an. Ich legte meine erhitzte Wange darauf ab, und ein kühler Schauder durchfuhr mich.
Ich konnte das alles nicht fassen. Es war, als berichtete meine Mutter von einer fremden Person, einem Gerücht in der Nachbarschaft oder der Enthüllung in einer Seifenoper. Es dauerte endlose Sekunden, bis ich realisierte, dass es tatsächlich mein Leben war, über das sie da sprach. Ich stand auf und lief einige Male im Zimmer auf und ab wie ferngesteuert. Meine Eltern fassten sich an den Händen, und Mama presste erneut die Lippen aufeinander. Erwartet ihr ernsthaft, dass ich dazu sofort etwas sage? Am besten noch, dass ich das gleich verzeihe? Ihr brennt alle Brücken zwischen uns nieder, und dann wundert ihr euch, dass ich nicht auf euch zukomme? Meine innere Stimme war rasend vor Wut und feuerte ihnen alle möglichen Vorwürfe entgegen. Doch mein Körper blieb ruhig. Ich wusste, das verletzte sie mehr, als wenn ich geschrien hätte.
»Wie heißt er?«, brachte ich kaum hörbar hervor.
»Giancarlo Conti«, antwortete Mama, ohne mich anzusehen.
Die Augen meines Vaters verengten sich, als hätte er gehofft, diesen Namen nie wieder hören zu müssen. Giancarlo Conti. Die Lüge, auf der mein Leben aufgebaut war, hatte einen Namen bekommen. Magensäure kroch mir die Speiseröhre hoch, mein Herz schrumpfte in sich zusammen und schlug gerade so schnell wie nötig. Wie aus dem Nichts brachen Bilder in meinen Kopf ein und machten sich überdeutlich vor meinem inneren Auge breit. Ich an der Hand eines fremden Mannes am Meer entlang spazierend … wir beide beim Trällern eines italienischen Kinderliedes … ich als Teenager, wie ich mit ihm am Esstisch hitzig italienisch diskutiere, … daneben meine Mutter. Die Frau, die mich jahrelang belogen hat. Die mir mein Leben, so wie es hätte sein können, genommen hat. Wer weiß, ob mein Vater und ich uns nicht irgendwann angenähert hätten, wenn ich davon gewusst hätte. Auch wenn Thomas mehr mein Papa ist als irgendjemand sonst auf der Welt. Ich hätte es zumindest versucht.
Meine Beine wurden weich, und ich ließ mich mit dem Rücken an der Wand auf den Boden sinken. Mit den Armen um meine Knie geschlungen saß ich da und versuchte, die Gedanken an Giancarlo aus meinem Kopf zu vertreiben, die Zeit zurückzudrehen, oder was auch immer nötig war, um mein Leben wiederherzustellen. Die heile, perfekte Familie Krüger, hinter der keiner einen solchen Skandal vermuten würde. Oder wussten es alle, nur ich nicht? Wahrscheinlich war das der Grund, weshalb die Leute die Beziehung meiner Eltern belächelt hatten und nicht die frühe Schwangerschaft, wie es mir immer erzählt worden war. Ich hörte spöttische Aussagen in meinem Kopf und hielt mir die Ohren zu. Es half nicht. »Der arme Mann hat jetzt das fremde Kind am Hals«, dröhnte es immer wieder. Das fremde Kind. Ich wusste nicht, ob ich mir das einbildete oder ob es eine verdrängte Erinnerung war, die sich jetzt ans Licht traute.
Seitdem meine Mutter den Namen ausgesprochen hatte, hatte keiner mehr etwas gesagt.
»Mäuschen«, hörte ich Papa wie durch Watte flüstern, und die Wärme seiner Hand streifte meine Schulter. Die Berührung, die zu einer anderen Zeit tröstlich für mich gewesen wäre, brannte jetzt wie Feuer.
Ich hatte immer noch die Augen geschlossen und die Hände an den Ohren. »Lass mich!«, brüllte ich und drehte ihm den Rücken zu. Mit wackeligen Beinen stand ich auf und verließ die Küche.
»Jetzt warte«, rief meine Mutter mir hinterher, doch es prallte an mir ab.
Mit letzter Kraft schleppte ich mich die Treppe hoch und knallte die Tür meines Zimmers mit voller Wucht zu. Nie wieder würde ich sie für meine Eltern freiwillig öffnen, egal wie sehr mich der Raum einengte.
Im Haus herrschte völlige Stille. Nur das leise Tippen meiner Finger auf der Tastatur des Laptops war zu hören. Ich schrieb die drei Worte, vor denen ich mich fürchtete, aber die gleichzeitig eine seltsame Art von Hoffnung in mir auslösten.
Giancarlo Conti, Siena
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