Teil 1
Zeiten des verlorenen Friedens
Schmerz und Furcht können uns zerreißen.
Aber sie können auch vereinen.
Und wenn wir aus ihnen lernen, werden sie heilen.
Eins
Ich war wieder dort.
Allein.
In diesem Meer von Leichen.
Überall lagen sie um mich herum, verstreut vor einer gigantischen Burg wie ein Fleckenteppich aus rotem Blut, blasser Haut und weißen Knochen.
Die Sonne ging auf, aber statt Wärme zu spenden, zeigte sie nur den Schrecken, den die Nacht mit sich gebracht hatte. Doch die leblosen Körper waren nicht einmal das Schlimmste. Am schlimmsten waren die Augen – dieses eine Paar. Es starrte mich an, starrte durch mich hindurch ins Nichts.
***
Ich schreckte auf, heftig atmend, Panik und Angst in meinen Knochen. Meine Kleidung durchnässt von meinem Schweiß.
Isaacs wurde wach. Sein Bett stand gegenüber von meinem, in seinem Blick diese schreckliche Mischung aus Unsicherheit, Besorgnis und noch etwas – etwas, das aussah wie Angst, aber keine wirkliche Angst war.
Ich hasste es – die Art, wie seine Augen eindringlich leuchteten, trotz der Dunkelheit, seine Silhouette steif, starr, als hätte er selbst erlebt, was ich eben noch gesehen hatte. Eine Weile lang starrte er mich nur an.
Es war nicht die erste Nacht, in der ich diesen Traum gehabt hatte. Diesen Traum, der sich nicht anfühlte wie einer.
Es war auch keiner.
Aber es war die erste Nacht gewesen, in der Isaacs zusammen mit mir zu Pathosth gegangen war, um ihn endlich darüber zu unterrichten.
Raznar begrüßte uns zuerst, er war der Phönix unseres Schulleiters – ein majestätisches Tier, mit Flügeln einer Palette aus Gold und Blut gleichend. Im nächsten Moment kam Pathosth. Zuerst war ich überrascht, ihn noch wach zu sehen, doch als er auf mich zutrat, wirkte es, als hätte ein Teil von ihm längst gewusst, dass ihm heute noch jemand einen Besuch abstatten würde. Isaacs öffnete gerade den Mund, da sprach der Schulleiter.
»Es freut mich, zu sehen, dass du mich endlich aufsuchst.«
Dann wandte er sich meinem Freund zu.
»Ich danke dir, Isaacs. Aber Parzival und ich benötigen Zeit allein.«
Meine Kinnlade fiel nach unten.
Der Junge neben mir schaute mich unsicher an, als wäre diesen Turm zu verlassen das Letzte, was er tun wollte.
Er war wie ein Bruder für mich und ich wollte auch nicht, dass er ging. Aber dann gehorchte er.
»Erzähl mir von deinen Träumen«, verlangte mein Schulleiter, sobald die Tür ins Schloss gefallen war.
Ich bereute es, meinen Mund geschlossen zu haben, denn jetzt fiel mir die Kinnlade erneut hinunter. Pathosth schmunzelte, als hätte er keine andere Reaktion erwartet.
»Ich mag Geheimnisse vor dir bewahren können, Parzival, aber das heißt nicht, dass dir dieselbe Fähigkeit gegönnt ist, mein Junge.«
Nach all der Zeit hätte es mich nicht überraschen sollen. Manchmal wusste er einfach Dinge, die niemand sonst wissen konnte.
Ich schloss den Mund, schluckte die Verwunderung hinunter. Nach jahrelangen schlaflosen Nächten berichtete ich ihm endlich davon. Erzählte ihm, was er schon längst gewusst hatte.
»Was du beschreibst, ist kein Albtraum. Es ist eine Vision. Sie zeigt dir Ausschnitte aus der Zukunft
– deiner Zukunft.«
Und genau das war es, wovor ich mich am meisten fürchtete.
Sobald sie davon erfahren hatten, erachteten es meine Professoren als eine Art Zeichen, weil sie glaubten, es wäre eine Gabe. Eine, die mir erlauben würde, etwas in dieser Welt zu bewirken. Die Dinge, wie sie jetzt waren, zu verändern.
Ich betrachtete es als einen Fluch, eine Plage, die mir schreckliche Nächte bereitete und mich bis an mein Lebensende verfolgen würde. Was ich dort erlebte – der Anblick, der sich mir offenbarte…
Tod, Blutvergießen, Leichen vor einer Burg – es war ein Horror, dem ich nie entgegentreten wollte.
»Visionen kommen nicht häufig vor, Parzival.«
Parzival…
Das war mein Name. Mein Schulleiter hatte ihn mir gegeben, obwohl er nicht mit dem übereinstimmte, den man mir am Tag meiner Geburt in die Wiege gelegt hatte.
Von Anfang an hatte dieser Mann so viel Hoffnung in mich gesetzt, die ich nie verstanden hatte. Die Taten, die mir ersehen waren, schienen nicht mit dem ängstlichen Jungen übereinzustimmen. Dem Kind, das nichts von der Welt außerhalb der Tore seiner Heimatstadt wusste, abgesehen von den Geschichten, die es las.
Das war alles – Bücher. Sie waren meine Welt, meine Abenteuer, mein Wissen von der Vergangenheit und meine Lektionen für die Zukunft.
»Nur den mächtigsten aller Magiern ist es vergönnt, einen Blick voraus zu werfen.«
»Ein Schlachtfeld übersät von Leichen erscheint mir als keine besonders gute Aussicht«, entgegnete ich.
Ich hoffte so sehr, er würde mir sagen, dass dieses Ereignis nicht zwingend stattfinden müsste.
Alles, wovor ich mich fürchtete, war das Eintreffen dieser Visionen. Sie zeigten mir die Folgen einer Schlacht und ich hielt mich nicht gerade für einen erfahrenen Kämpfer.
Ich zog Bücher einem Schwert vor. Sie stellten das Wissen dar, welches ich zum Überleben brauchte.
»Ob gut oder schlecht spielt keine Rolle. Es ist eine Gabe, die dir geschenkt wurde. Nutze sie und setzte sie zu deinem Vorteil ein.«
Er legte seine Hand auf meine Schulter, schaute mich an, mit dem Silber in seinen Augen, als hätte er Mitleid. Als hätte er das Elend, das mich erwartete, bereits erlebt.
Bei Raznars Asche, ich hatte keine Ahnung, wie ich die Visionen zu meinem Vorteil einsetzten sollte. Ich wusste nichts über sie.
Kannte den Ort nicht, an dem diese Schlacht stattfinden würde. Konnte mir keinen Grund ausmalen, für den so viele Menschen ihre Leben ließen. Mir war nicht einmal klar, ob diese Geschehnisse bereits feststanden oder ob es einen Weg gäbe, sie zu verhindern.
Aber das wusste niemand.
Nicht einmal Pathosth, der sonst immer eine Antwort auf alles hatte.
Es machte mir Angst. Lehrte mich das Fürchten wie nichts jemals zuvor.
Doch trotz allem hatte ich in der Zeit, in der ich in meiner Schule aufgewachsen war, gelernt, dass jeder Rat meines Schulleiters kostbar war. Zum Ende hin erwies er sich immer als eine willkommene Hilfe.
Ich fragte mich, ob es diesmal auch so sein würde.
Hoffte es.
Auch Jahre nach dieser Nacht hatte ich weitere Visionen – immer dieselbe. Alles blieb, wie es immer gewesen war, bis mich Pathosth eines Tages in seinen Turm rief und mein ganzes Leben auf den Kopf stellte.
Raznar war nicht bei ihm – er hatte den Phönix vor einer Weile ausgesandt, aber anscheinend war er noch immer nicht zurück. Was ungewöhnlich war, denn er brauchte sonst nie mehr als einen Monat, um eine Nachricht zu überbringen.
Nie.
»In dir ist etwas, dass ich bei keinem meiner Schüler jemals zuvor gesehen habe. Eine große Verantwortung steht dir bevor, Parzival, und eine noch größere Herausforderung. Du wirst Entscheidungen treffen, die dir das Herz brechen werden und es plagt mich, dass ich dir diese Bürde nicht abzunehmen vermag. Sie ist für dich bestimmt und nur du allein kannst lernen, mit ihr umzugehen. Und – obwohl du Zweifel an dir hegst, setze ich mein höchstes Vertrauen in dich. Du bist noch nicht bereit, aber du wirst es sein. Der Tag wird kommen, an dem du dich der Macht entgegenstellst, die auf dieses Land zumarschiert. Deine Entscheidungen werden alles verändern.«
Er wusste etwas. Irgendwas, von dem niemand sonst eine Ahnung hatte. Es lehrte mich das Fürchten und er sah es. Weil er es immer tat. Weil er immer zu erkennen schien, wann mir etwas Unbehagen bereitete - als lastete eine ähnliche Bürde auf seinen Schultern.
»Hab keine Angst, Parzival. Mein Junge. Du wirst nicht allein sein. Du wirst Hilfe brauchen und sie erhalten, wenn du nach ihr fragst. Aber meine Arbeit ist getan.«
So hatte er sich von mir verabschiedet. Und ich hatte nie verstanden, wieso. Erst zum Schluss – als es längst zu spät gewesen war, das Geschehene rückgängig zu machen.
Als ich Isaacs erzählte, ich müsste die Schule verlassen, wusste er es bereits.
Seine braunen Augen sahen mich hilflos an und da erkannte ich, dass ihn etwas belastete, von dem er mir nichts erzählte.
Die Wahrheit, die sie mir alle verwehrt hatten und von der ich erst lange Zeit später erfahren sollte.
Isaacs gab mir seine Kette, die ich von diesem Tag an nur einmal ablegen würde. Sie war das Einzige, was mir von ihm geblieben war – von dem fremden Jungen, der erst mein Freund und dann mein Bruder geworden war. Von diesem Augenblick an sollte sie mich auf all meinen Reisen begleiten, mir Halt geben, wenn die Erinnerungen an ihn wieder schmerzten.
Er entfernte sie von seinem Hals, hielt sie mir entgegen. Ein schwarzer Anhänger, der fast wie der Fangzahn eines Wolfes aussah, befand sich an einem einfachen Stoffband.
»Er ist aus Obsidian«, erklärte er mir.
Ich wusste, wie viel diese Kette ihm bedeutete. Wie oft seine Hände dazu neigten, nach dem Edelstein zu greifen, wann immer er den Halt brauchte, den er ihm versprach.
Der Kummer, als er ihn mir entgegenhielt, war unerträglich. Aber da verbarg sich noch etwas anderes in seiner Miene, das ich nicht entziffern konnte.
»Ich verstehe nicht…«
Tränen verschleierten meine Sicht, verzerrten meine Stimme.
»Manchmal musst du Dinge tun, die du nicht tun willst«, entgegnete er mir als einziges. »Und jetzt, … jetzt musst du gehen, obwohl du es nicht willst, und ich muss mich von dir verabschieden, obwohl ich es nicht will.«
Er schenkte mir ein Lächeln, aber es war voller Schmerz, voller Kummer und Angst. Seine Augen wurden glasig und da schoss er auf mich zu. Schlang seine Arme um meinen Körper. Hielt mich, drückte mich dichter an sich, während er den Kopf auf meine Schulter legte und den Stoff meines Hemdes mit seinen Tränen durchnässte. Ich spürte, wie sich die warmen Tropfen sacht auf meine Haut legten – wie ein Blatt, das langsam vom Ast eines Baumes fiel.
Ich presste ihn dichter an mich, weil es das letzte Mal war, dass ich die Gelegenheit dazu bekäme. Ich hatte immer geglaubt, er wäre es, der als erster unsere Schule verlassen würde. Um in die Welt hinauszuziehen. Um die Abenteuer zu erleben, von denen er so sehr träumte.
Anscheinend lag ich falsch.
Nach einer Weile löste er die Umarmung. Hielt mir erneut seine Kette entgegen.
»Hier, nimm sie. Sie gehört dir.«
Als ich mich keinen Millimeter rührte, legte er sie um meinen Hals.
»Solltest du dich auf deinem Weg verirren, sieh sie an und sei versichert, dass ich immer bei dir sein werde.«
Es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah. Das letzte Mal, dass ich sein Lächeln erblickte und seine Stimme hörte.
Wir nahmen einander wieder in den Arm, legten den Kopf auf die Schulter des anderen, als wollte keiner von uns, dass dieser Moment endete. Als hofften wir beide, die Zeit würde einfrieren.
Als er diesmal die Umarmung löste, wusste ich, es war so weit. Ich musste meine Heimat verlassen und kannte nicht einmal den Grund dafür.
Pathosth begleitete mich mit einigen anderen Professoren zu den Toren der Schule. Alles, was ich über Magie wusste – so wenig es aufgrund meines jungen Alters gewesen sein mochte – hatte man mir hier beigebracht. Erst viel später sollte ich merken, wie viel mir noch fehlte.
Damals hatte ich mich gefühlt wie ein Verstoßener. Wie ein einsames Schiff auf hoher See, zurückgelassen im Sturm. Wegen meiner Visionen hatte ich in ständiger Angst gelebt – vor der Zukunft, vor dem, was ich war – und dann hatten sie mich plötzlich fortgeschickt aus einem Grund, den mir niemand nannte.
So viel hatten sie meinetwegen geopfert.
Sie waren Helden. Auch wenn ich lange Zeit anders darüber gedacht hatte. Und dennoch würden ihre Namen niemals in den Geschichtsbüchern erwähnt werden. Niemand würde je wissen, was sie getan hatten.
»Du musst Avalon verlassen. Geh nach Westen, dort wirst du ein Dorf finden. Und Hilfe.«
Pathosth legte die Hand auf meine Schulter. Sein linker Mundwinkel zuckte auf eine bemitleidenswerte Art nach oben. Ein Lächeln formte sich auf seinen Lippen. Kein normales, sondern eines voller Kummer und… und noch etwas anderem.
»Wir wünschen dir alles Glück dieser Welt, Parzival.«
Zum Abschied schenkte er mir ein weiteres Lächeln. Und ein Nicken.
Das war alles gewesen. So hatte der Tag begonnen, der alles verändern würde.
Sie drehten sich um und schlossen die Tore, ohne ein weiteres Wort. Zum ersten Mal seit meiner Zeit in Avalon fühlte ich mich so allein wie noch nie.
Obwohl man mir gesagt hatte, ich sollte gehen, konnte ich es nicht. Nahrung hatten sie mir reichlich mitgegeben, doch es fühlte sich falsch an, meine Heimat zu verlassen.
Also blieb ich.
Schlief das erste Mal auf kaltem Stein statt in einem weichen Bett. Ein Teil von mir hoffte, sie würden mich wieder aufnehmen, doch vergebens.
Ich musste schnell lernen, dass ich Avalon hätte verlassen sollen, solange ich noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte.
Comentarios