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AutorenbildLisa und Anna

Leseprobe zu Selbstkorrektur


 


 

<01 / Denaturierung>

 

Er rang nach Luft, so leise er konnte. Immer wieder sah er sich ruckartig um. Sein Nacken schmerzte bereits von den zahlreichen Drehungen.

Keine Aufmerksamkeit erregen. Ich weiß, dass es hier sein muss!

Seine Atmung normalisierte sich etwas. Geistesabwesend betrachtete er den hohen Aktenschrank, bis sein Blick an der Nummer β2010 haften blieb. Er holte kaum hörbar Luft, und seine Finger begannen, sich durch die digitalisierten Akten zu wühlen. Zunächst durch die nummerierten Aktenkennzeichnungen. Anschließend durch die alphabetisierte Kennzeichnung.

Ca, Ce, Ci, Co, Cu, Da … De!

Seine Augen weiteten sich. Deĵoro! Er riss den Datenträger aus dem Flexibildschirm, wobei ihm ein spitzer Schmerz durch die Fingerkuppe fuhr. Verdammt! Er leckte das Blut von seinem Finger und stopfte den Chip mit den Daten, die ihm sein Überleben sichern würden, in seine Manteltasche. Erneut sah er sich um.

Sein Blick kreuzte sich mit dem eines Wärters. Es war ein Blick von wenigen Sekunden, doch die Gedanken, die sich in Yus Kopf aneinanderreihten, glichen denen von mehreren Jahren.

Das klare Visier des Wärters füllte sich mit Datensätzen. Yu erstarrte augenblicklich. Jetzt verdrängte ein einziger Gedanke alle anderen: Lauf!

Er rannte den Korridor entlang und hörte das dumpfe Echo der Hermes-Boots, die seinen Schritten folgten. Seine Brust füllte sich mit einer brennenden Schwere. Noch ein paar Schritte, und er wäre aus dem Gebäude.

Yu jagte um die Regalreihe und sah, dass der rettende Ausgang bereits von weiteren Wärtern eingenommen war. Es gab noch einen weiteren Ausgang. Schließlich hatte er sich seit Monaten auf diesen Tag vorbereitet und damit gerechnet, dass es hier viele Wärter geben würde. Immerhin war es das alte Archiv. Er änderte ruckartig die Richtung und verdrehte sich leicht eines seiner Knie dabei.

Das Archiv war zum Glück eines der wenigen Gebäude, die aus der alten Welt stammten, eines, dessen Fenster noch aus der kostbarsten Ressource des Planeten bestand – aus Glas. Aus seiner Jackentasche zog er ein Puck-großes Schwingungsgerät hervor und schmetterte es an die durchsichtige Scheibe einige Meter vor ihm. Ein kurzer schriller Ton ertönte, und das Fenster war von feinen Haarrissen durchzogen. Er sah kurz zurück in den Lauf mehrerer Transkriptor-S und fand den Mut, durch das circa zwei Meter hoch liegende Fenster zu springen. Er verschränkte die Arme vor dem Gesicht, gleichzeitig drückten seine Beine ihn vom Fußboden ab. Ein lautes Klirren untermalte seinen Sprung ins Freie. Ein Glück, dass mein Mantel mit Glasfasern verstärkt ist, dachte er sich, während er nur leichte Blessuren an den Händen und im Gesicht davontrug. Seine Knie federten den Sprung ab und schmerzten, als er auf dem Bürgersteig aufkam. Er rang kurz nach Luft. Adrenalin durchströmte ihn. Yu vergaß den pulsierenden Schmerz in seinen Knöcheln und Knien. Er rannte weiter.

»Sofort stehen bleiben!« Die Wärter kreierten erneut ein Echo zu seinen Schritten und ließen diese in der Straße verhallen.

»Im Namen des Gesetzes, der Mitbürger und Meneva sind Sie verhaftet, Yu Kishida!«

Er blickte kurz nach hinten. Die Wärter waren gute zehn Meter hinter ihm. Seine Schulter schmerzte. Er geriet ins Taumeln, konnte sich aber auf den Beinen halten. Erst in diesem Moment bemerkte er all die Passanten, die ihn fassungslos ansahen.

»Im Namen des Gesetzes, der Mitbürger und Meneva sind Sie verhaftet, Yu Kishida.«

Er sah zu den Lautsprecher-Drohnen nach oben. Alle Blicke waren ihm zugewandt. Yu fühlte sich wie in einem dichten Wald, der die Fähigkeit entwickelt hatte, zu sehen und zu hören. Doch genau wie Bäume verharrten die Passanten angewurzelt an Ort und Stelle. Keine Regung ging von ihnen aus. Keiner hielt ihn auf. Seine Lunge brannte. Dennoch stoppten seine Beine für keinen Moment. Dann sah er nach oben zur Bahnbrücke, die im Minutentakt Züge über die verästelten Verkehrswege der Metropole trug, vorbei an begrünten Glasfassaden und kühlen Wolkenkratzern. Yu griff nach dem Chip und hielt ihn fest, bis die scharfen Kanten in seiner Hand schmerzten. Er war glücklicherweise beim Sprung nicht abhandengekommen. Seine Beine begannen zu krampfen, doch er durfte nicht stehen bleiben.

Wie ist es bloß zu all dem gekommen?, ging es ihm stets durch den Kopf. War es wirklich wichtig, die Wahrheit zu kennen? Sie von allen Perspektiven und Zeitpunkten ergreifen und begreifen zu müssen?

Würde man dadurch ein besseres, glücklicheres Leben führen können? Im Endeffekt nützte diese Wahrheit sowieso niemandem. Ganz im Gegenteil, sie hätte nur negative Konsequenzen für jeden. Das wusste Yu bereits jetzt aus eigenen Erfahrungswerten.

Bisher war sein Leben relativ systemkonform gewesen – ja, geradezu vorbildlich. Zumindest sein Erwachsenenleben. Für einen Schriftsteller hatte er wenige Blackboxes in seiner Vergangenheit angesammelt. Wenige Dinge, die nicht gern gesehen waren, vom Ältestenrat oder Meneva. Er wusste Grauzonen zu nutzen. Er wollte schreiben, über echte Tatsachen, verpackt in fiktionale Erzählungen. Mit seinen Romanen wollte er seinen Lesern Vorstellungskraft vermitteln, etwas, das nur noch wenigen Menschen vorbehalten war. Damit das möglich war, achtete er auf eine akribische Authentizität seiner Figuren und der Erzählperspektiven. Oft brachten ihn die Recherchen dazu mit dem Gesetz in Konflikt. Dieses Mal aber konnte er nicht mit Minuspunkten auf seinem Sozialkonto rechnen. Dieses Mal würde ihn sein Vergehen das Leben kosten.

Als er die Leichen im Archiv des Zentrums gefunden hatte, hatte er gerade noch nach einem Buch greifen können, bevor er Hals über Kopf geflohen war. Der Chip in seiner Manteltasche war seine Versicherung. Auf ihm waren Personendaten gespeichert, die ihn direkt zu der einzigen Person führen würden, die ihn vor dem System schützen konnte. Die ihm das Leben retten konnte.

Endlich erreichte er einen der hoch gelegenen Bahnhöfe. Er presste sich an der Menschenmenge vorbei und entwendete dabei geschickt eine herumbaumelnde ID-Karte eines Passanten. Die Ticketschranken öffneten sich, und ihm gelang es, in den gerade eingefahrenen Zug einzusteigen. Sein Hals war trocken und brannte. Jeder Atemzug verlangte nach mehr Sauerstoff, doch er tat das Gegenteil. Yu versuchte, seine Atmung zu normalisieren, und sehnte sich nach einem Schluck kühlendem Wasser. Zaghaft sondierte er die anderen Fahrgäste und entdeckte schließlich einen freien Platz am Fenster gegenüber einer Frau, der immer wieder die Augen zufielen. Er setzte sich und griff nach dem Buch in seiner Manteltasche. Ganz kurz linste er noch mal auf den Titel. Ja, das war das richtige.

Ein leises Husten schreckte ihn auf. Sein Gegenüber nahm gerade die Ellenbeuge vom Gesicht. Yu betrachtete die Frau genauer. Husten um diese Jahreszeit, das kam selten vor. Sie musste in seinem Alter sein. Er suchte nach Daten über seinen Iris-Chip, dem FOKUS (=Fixierte Optimierung konstruiert für Umgebungsdaten-Sicherung), doch er fand keine Daten aufpoppen. Nichts war vermerkt. Nur eine Auskunft mit dem Hinweis: Daten gesperrt. Sein Blick wurde ernster.

Die Frau starrte hingegen gedankenverloren aus dem Fenster. Ihre linke Hand stützte ihr Gesicht. Auf ihren Fingern waren verblasste Schwielen zu erkennen. Schwielen, die von etwas Schwerem verursacht worden waren. Etwas, das sie jeden Tag in den Händen halten musste. Ja, fast wie die Abdrücke einer Transkriptor, die sich auf der blassen Haut verewigt zu haben schienen. Er begann, sie zu studieren. Blasse Haut, unter der sich leicht die dunkelblauen Augenringe abzeichneten. Eine zierliche Statur, versteckt in einer lockeren Jacke.

Kurz kreuzten sich ihre Blicke. Ihr gedankenverlorener Ausdruck war jetzt gänzlich verschwunden. Yu musste den Augenkontakt umgehend unterbrechen, doch diese hellgrauen Augen, in deren Helligkeit das Abbild der Stadt reflektiert wurde, schienen ihm auch etwas anderes zu zeigen. Etwas, wofür er noch keine Worte fand. Sein Atem stockte leicht.

Ihre Augenbrauen zuckten kaum merkbar, dann sah sie wieder aus dem Fenster. Dieses Mal leicht verärgert. Diese Frau musste einen Beruf haben, der von ihr sowohl mental als auch physisch alles abverlangte.

Erschöpfung kannten die meisten Menschen nämlich ausschließlich aus den historischen Aufzeichnungen. Dennoch verursachten einige Berufe nach wie vor diesen Zustand, wenn auch nur noch sehr wenige. Daraus schloss er, dass sie für den Staat arbeitete. Sein Blick wanderte hin zu ihren Schuhen, doch er hielt oberhalb ihrer Knie inne. Lichtfressend schwarze Blazer-Spitzen fielen unter dem Jackensaum hervor, während sie ihre Beine überschlug.

Eine rationale, mit Heiterkeit untersetzte Stimme ertönte: »Shinmichi-Roku-Chōme. Shinmichi-Roku-Chōme. Shinmichi-Roku-Chōme.« Die Bahn kam zum Stehen. Ein schrilles Piepen ertönte rhythmisch und untermalte das Surren der sich öffnenden Türen.

Lichtfressendes Schwarz! Hastig sprang er vom Sitz auf. Die Türen schlossen sich wieder. Das Piepsen ebbte ab. Er eilte zur Tür und presste schon fast panisch auf den Öffnen-Knopf. Widerwillig gaben die Türen seinem Wunsch nach, und es gelang ihm in letzter Minute, die Bahn zu verlassen. Am Gleis rang er nach Luft. Vor ihm tat sich eine Warnung über seinen hohen Puls auf. Er versuchte, sich zu beruhigen. Ein Atemzug folgte auf den anderen. Jeder weitere ein wenig länger als der vorherige. Ruhig und bedacht mischte er sich unter die Menge. Er verließ den Bahnhof ohne Schwierigkeiten mit einer neu gestohlenen ID-Karte. Der bestohlene Passant versuchte, ihm nachzujagen, doch er verlor Yu schnell in der Menschenmenge. Die Video-Suchbefehle und Lautsprecherdurchsagen zu seiner Person waren bereits verstummt. Er war froh darüber und zugleich äußerst verwundert. Sollte er etwa nicht gefunden werden? Obwohl er wegen mehrfachen Mordes verdächtigt und wegen des Einbruchs in das Archiv gesucht wurde?

Yu hatte keine Ahnung, wo er hinsollte. Sein Haus wäre sicher zu gefährlich. Meneva und das ASG könnten ihn direkt über die eingebauten Biosensoren orten. In kürzester Zeit würde ihn dann eine Security-Drohne in Gewahrsam nehmen. Doch er brauchte ein Versteck, damit er seine nächsten Schritte planen konnte, und um die Person zu finden, die auf dem Datenchip gespeichert war.

Hastig sah er sich um. Zu seiner Rechten tat sich eine dunkle Gasse auf. Hier fand er kurz Schutz. Er atmete durch und nutzte die flüchtige Ruhe, um nachzudenken. Er griff in seine Manteltaschen. Der Chip pikste in seine linke Handfläche, während er in seiner rechten Manteltasche ins Leere griff.

Das darf nicht wahr sein!

                                                                       *

Mit jeder Fahrt über eine der filigranen Stadtbrücken rutschte ihr zartes Kinn weiter von ihrer Schwielen-gekennzeichneten Hand ab. Schließlich donnerte sie bei der Übersetzung einer größeren Brücke unsanft mit der Stirn gegen die Scheibe. Vor ihrem inneren Auge erschien sofort ein Vitalwerte-Report, der ihr eine minimale Beule an besagter Stelle prognostizierte. Sie schloss die Augen für zwei Atemzüge und löschte den unnötigen Bericht.

Es ist ein gewöhnlicher Montagnachmittag. Endlich wieder. Sie atmete ruhig und hatte Mühe, ihre Augen offen zu halten.

Sie seufzte und musste husten. Der Einsatz von gestern Nacht, mitten in der Kälte, hatte wohl seinen Tribut gefordert. Der Aufwand hatte sich jedoch gelohnt, denn der ID-Fälscher wurde schnell gefasst. Ihre Zufriedenheit kippte, als ein fremdes Bein ihre Knie streifte. Alles in ihr wollte zusammenzucken, aber dank ihrer Ausbildung blieb sie ruhig. Sie warf dem Störenfried einen flüchtigen Blick zu. Seine Vitalwerte waren nicht richtig lesbar. Nur seinen Puls konnte sie auswerten. 89. Leicht erhöht. Er schwitzt ziemlich. Vielleicht einfach ein nervöser Typ. Nicht weiter drüber nachdenken. Einfach ignorieren. Ich bin nicht mehr im Dienst.

Sie löste ihren Blick von ihm und sah aus dem Fenster. Anschließend schloss sie die Augen und lauschte den unregelmäßigen, gleichzeitig tiefen Atemzügen ihres neuen Gegenübers. Sie öffnete ihre Augen wieder.

Der etwas mitgenommen aussehende Mann prüfte nervös seine Taschen. Seine Hände tasteten die geräumigen Manteltaschen hektisch ab. Schließlich kamen seine Bewegungen zum Stillstand, und ein erleichtertes Seufzen entglitt ihm. Normalerweise hätte sie diese Person ansprechen müssen. Zumindest hätte sie seine Identität scannen müssen. Schließlich galt es, jedwedes verdächtige Verhalten zu analysieren. Zumindest, wenn sie im Dienst gewesen wäre. Seit 18:39 Uhr war das nicht mehr der Fall. Sie war jetzt im Urlaub. Endlich Zeit zum Abschalten. 

Diese immense Schwere, die sie im Körper und Geist erdrückte – sie hatte keine Kraft, sie wieder zu wuchten. Also starrte sie gedankenverloren aus dem Fenster. Sie beobachtete den Wolkenkratzer mit der bunt blinkenden Holo-Reklame über eine neue, besonders schonende Zahnreinigung. Abgelöst wurde diese von schwebenden Drohnen-Reklamen im hell erleuchteten Abenddämmerungshimmel. Fast an der vorletzten Haltestelle. Die Bahn zog an einem großen Park vorüber, in dem die Leute sich oft mit Familie und Freunden nach der Arbeit verabredeten. Ich war ewig nicht mehr hier. Aber diese Woche könnte ich mal wieder alle zusammentrommeln. 

Die kühle Stadtfassade in ihren neutralen Grautönen nahm immer mehr das satte Rot in sich auf, bis die Sonne schließlich komplett versank.

Die Lichter im Zug gingen an. Sie spürte einen stechenden Blick und sah ihrem Gegenüber nun ins Gesicht. Warum starrte er sie auf diese Weise an? Wie sah der überhaupt aus? Ein alter Mantel? Ungekämmte Haare? Dafür würde Meneva garantiert Sozial-Punkte abziehen. Bloß nicht den FOKUS aktivieren. Langsam war sie genervt. Sie wandte sich ab, doch sie fühlte weiterhin seinen Blick auf ihr. 

Wenn er mich ansprechen will, soll er es endlich machen. Genervt schaute sie starr aus dem Fenster. Jetzt war sie unterhalb der bunt blinkenden Zahnreinigungsreklame. Gleich würde der Zug anhalten. Sie schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück.

Der Zug ließ ein hydraulisches Gähnen ertönen. Die Türen schoben sich auseinander. Anschließend ertönte fast zeitgleich das vertraute Tüdeln, welches allein dieser Haltestelle zuzuordnen war. Nachdem es verstummte, schlossen sich die Türen wieder.

Lys’ Gegenüber erhob sich ruckartig, und sie vernahm ein dumpfes Geräusch. Sie beobachtete ihn, wie er hysterisch auf den Öffnen-Knopf drückte und hinauseilte, ehe die Tür komplett geöffnet war. Kurz überkam sie erneut ihr Pflichtbewusstsein, schnell einen ID-Scan durchzuführen, doch da war der Verdächtige schon aus der Tür gestürmt.

Auch gut, dachte sie sich. Endlich frei. Anderseits stimmte definitiv etwas mit seiner ID-Kennung nicht. Und seine Vitalwerte waren auch abnormal. Immerhin gab es keine Stresssituation im Zug. Auch dass er mich gestreift hat, trotz des vielen Platzes, ist ungewöhnlich gewesen. Und wieso zieht man sich so an? Es gibt nur zwei Regeln: Achte deine Mitmenschen und kümmere dich um deine Gesundheit. Das schließt auch die äußere Erscheinung ein.

Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Lys zog den etwas herabgerutschten Reißverschluss an ihrem rechten Stiefel hoch. Ihr Blick folgte ihrer Handbewegung, und im peripheren Sichtfeld erkannte sie einen in Leder gebundenen Papierstapel auf dem Boden liegen.

Ein Buch? Da liegt ein Buch. Aus Papier!

Ohne darüber nachzudenken, verschwand das Buch in ihrer Jackeninnentasche. Die Bahn setzte sich leise murrend in Bewegung. Nicht mal zwei Minuten später stoppte sie, und die Türen schoben sich erneut auseinander. Beim Aussteigen, beim Treppe Hinabgehen, ständig kreisten ihre Gedanken um das Buch in ihrer Jackentasche, welches sie fest gegen ihr hämmerndes Herz drückte.

Ein Buch aus Papier!, versetzte es ihr immer wieder einen inneren Schrecken. Sie musste sich zusammenreißen, es nicht laut vor sich hinzusagen. Natürlich gab es Bücher, die meisten waren allerdings verboten worden. Und sie war sich sicher, dass dieses dazugehörte.

Sie zog ihre Jacke enger zusammen und umklammerte sie, als würden eisige Minusgrade herrschen, dabei war es ein lauer Herbstabend. Auf dem Weg nach Hause versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ein illegales Buch versteckte. Sie schlenderte bestimmt, dennoch gemächlich an ihrem liebsten Convenience Store vorbei, kaufte sich am kleinen Essensstand in ihrer Straße ein Abendessen und schloss die schwere Tür zu ihrem Zwölf-Quadratmeter-Apartment auf. Kraftlos schritt sie über die Schwelle und ließ die Tür zufallen. Sie ließ sich an ihr hinabgleiten. Auf dem Fußboden sitzend, zog sie mit zitternd kalten Fingern das Buch aus ihrer Jackentasche.

Dora Sagawa  – Vom Finden der Wahrheit und die Revolution der Zerstörung, las sie auf der zweiten Seite. Sie ließ das Buch fallen und sprang auf. Nicht das! Nicht so eines!

In ihr kreisten zahlreiche Gedanken, die immer wieder gegeneinander krachten. Jegliche Art der Unterhaltungs- und Bildungsliteratur war von staatlich abgesegneten Autoren zugelassen. Doch der Ältestenrat und die KI gestatteten keinesfalls Literatur aus der Vergangenheit, die sich in irgendeiner Weise kritisch äußerte. Schon gar nicht für die höchsten Amtsträger der Sicherheit. Nein, für eine Wächterin des ASG – Amt für Sicherheit und Gesundheit – konnte allein der Besitz solch fragwürdiger Lektüre zum Verhängnis werden.

Sie griff den verbotenen Gegenstand auf und verschanzte ihn hektisch in einer Schublade unter ihrem Schreibtisch. Dieses Buch musste aus ihrem Leben verschwinden – augenblicklich.

 

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