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AutorenbildLisa und Anna

Leseprobe zu The Song of Shadows


 


 

7 - Khaos


Als sich unsere Sicht klärte und wir aus dem Nebel traten, der uns vor die Tore Teavas gebracht hatte, schnaubte mein Begleiter erneut. 

»Âme leistet ihr eindeutig zu viel Gesellschaft. Warum sonst sollte sie auf derart absurde Ideen kommen? Du bist ihr Sohn. Ihr einziges Kind.« 

Ein raues Lachen löste sich aus meiner Kehle. »Wenn sie die Wahl hätte ...« 

Raiden unterbrach mich augenblicklich. »Nein. Sie erinnert zwar an einen Schneesturm, aber nach allem, was damals geschehen ist, wäre jeder von uns mit einem kalten Herz besser dran.« 

Schweigend passierten wir den steinernen Torbogen, und mein Freund sog zischend die kühle Luft ein, was mir ein Schmunzeln entlockte. Kurz darauf stolperte auch mein Herz. Der Anblick des zur Erde gestürzten Nachthimmels war jedes Mal aufs Neue überwältigend. 

Den Weg, der sich den Hügel hinab wand, zierten leuchtende Steine, die wiederum von schmalen Bachläufen flankiert wurden. Leuchtkäfer zirpten und tanzten zwischen den dichten Zweigen der Bäume. Die Atmosphäre war erfüllt vom Geruch der Khoeli, die überall entlang des Pfades wuchs und ihre mitternachtsblauen Kelche gen Himmel streckte. Teavas strahlte Ruhe und Beständigkeit aus. Und gleichzeitig Leben und Wandel. Auf einem der treppenförmig angelegten Marktplätze trennten wir uns. Auf jeder Ebene der Stadt gab es einen zentralen Speicher für die Lichtenergie der Lucid. Andtherâ entschied selbst, wo die Lumix gebraucht wurden. 

Ich trat unter den Ästen einer uralten Weide hindurch und ein leises Rauschen begleitet meine Schritte, ehe ich zwischen den mächtigen Wurzeln auf die Knie ging. Behutsam löste ich die Phiolen von meinem Gürtel und öffnete nacheinander die gläsernen Behältnisse. Funkelnd und flackernd umfing das Licht das alte Holz, bevor es sich mit der Weide und der Erde rundherum verband. Ich sah hinauf zu der dichten Baumkrone und zählte in Gedanken bis drei. Die Energie explodierte in jedem Zweig, jedem Blatt und jedem Stiel. Regnete auf Teavas hinab, und ich konnte deutlich spüren, wie das Aufatmen der Natur durch meinen Körper pulsierte. Wir nannten es Niakwâme – Regen des Lebens. Langsam zog ich mich zurück und trat wieder auf den Weg. Nah-haks Augen waren kreisrund und die kleine Echse klammerte sich in den Stoff meines Hemds, um nicht von meiner Schulter zu fallen. 

Grinsend strich ich ihm über das gold-schwarze Köpfchen. »Das gefällt dir, mmh?« 

Sein aufgeregtes Gurgeln war Antwort genug. Ich folgte dem Pfad tiefer in das Herz der Hauptstadt hinein. Am Ende einer schmalen Gasse, nahe eines kleinen Wasserfalls, existierte ein Laden, der von außen kaum zu erkennen war. Die besten Süßwaren entstanden in einer winzigen  Küche, in der zu jedem Stand des Lichtmondes fantastisch roch. Meine Hand hatte das verzierte Holz des Fensterladens noch nicht berührt, als dieser bereits aufgestoßen wurde. 

»Khaos, mira soleire adras.« Lächelnd nickte ich. »Das Gleichgewicht sei auch mit dir.« 

»Was führt dich zu uns? Gibt es Neuigkeiten aus Barash?« 

Neben die Gestalt des alten Mannes schob sich eine kleine Silhouette. »Khaos!« 

Binnen eines Augenblicks wurde die Eingangstür aufgerissen und zwei schmale Arme schlangen sich um meine Hüfte. Ich fuhr dem kleinen Mädchen durch das lockige Haar. 

»Nicht doch, Nyarai. Du solltest dem Sohn unserer Anführerin mit etwas mehr Respekt begegnen.« 

Irritiert blinzelte Rai mich aus sturmgrauen Augen an. 

Ich zwinkerte ihr verschwörerisch zu, und ihr Lächeln ließ das ganze kleine Gesicht strahlen, als wäre eine Lumix geradewegs unter ihre Haut geschlüpft. 

»Der Handel ist eine Herausforderung geworden, aber keine, die wir nicht meistern können.« Die Sorgenfalten auf der Stirn meines Gegenübers glätteten sich, und er winkte mich näher an das spärlich erleuchtete Fenster heran. Während er hinter sich in der dunklen Holzvitrine nach etwas suchte, spürte ich ein eindringliches Zupfen an meinem Ärmel. 

»Ich habe geübt, seit du das letzte Mal hier gewesen bist.« Stolz schwang in Rais Stimme mit, ebenso wie ein Hauch Unsicherheit. 

»Was flüstern die Schatten?« Ich ging in die Knie, war mit dem kleinen Mädchen auf Augenhöhe, als sie verlegen die Hände verschränkte und auf ihre Füße hinabsah. 

»Ich glaube, sie benutzen eine der freien Sprachen. Weil ich sie nicht wirklich verstehe, weißt du?« Sie trat einen Schritt auf mich zu und presste die Lippen aufeinander, als hätte sie ein furchtbares Geheimnis preisgegeben. 

Schmunzelnd ließ ich meine Finger tanzen, und die Dunkelheit schob sich raunend über meine Handfläche. Mit großen Augen beobachtete Rai das Schauspiel. »Sie sind wunderschön.«

»Sie sind wunderschön.« Schwer atmend zog ich meine Hand zurück, und die Schatten huschten davon, als hätten wir uns gemeinsam an der Erinnerung verbrannt. Sturmgrau schob sich in mein Sichtfeld. Katapultierte mich zurück in die Gegenwart.

 »Hab ich sie erschreckt?« Eine geflüsterte Frage. Tränen verschleierten ihren stets neugierigen Blick. 

Das Lächeln, das sich in meine Mundwinkel schob, fühlte sich merkwürdig kühl an. »Nein, sie sind nur ...« In diesem Augenblick lenkte mein kleiner Begleiter Rais gesamte Aufmerksamkeit auf sich, als er unter meinem Kragen hervorkroch und herzhaft gähnte. Vor Freude quietschend hielt das Mädchen ihre Hände geöffnet auf Schulterhöhe, doch der Azdaja zögerte. 

»Ist in Ordnung. Du kannst ihr vertrauen.« Als hätte er meine Erlaubnis abgewartet, wechselte die schwarz-goldene Echse ihren Träger. »Das ist Nah-hak.« 

Rai strahlte zuerst mich, dann das gurgelnde Wesen an, das vorwitzig ihren linken Arm hinaufkletterte. »Sind Azdajas nicht schattenfarben?« Erneutes Kichern, da Nah-hak mit seiner Zunge an ihr Kinn stupste. 

Ich erhob mich und betrachte die beiden einen Moment lang. »Er ist etwas Besonderes. Wir müssen gut auf ihn aufpassen.« 

Nyarai nickte eifrig. Ich zerzauste ihr erneut die Locken, während ihr Großvater mit einem kleinen Päckchen aus dem Haus trat. Dankend nahm ich es entgegen. »Ich muss aufbrechen. Der Anführerin Bericht erstatten.« 

»Richte Rîona unseren Dank aus. Und gib auf dich acht, in diesen Zeiten ist das Netz des Gleichgewichts besonders filigran gewoben und jeder Schritt will gut überlegt sein.« Der alte Mann sah mich wachsam an, ehe er seine Enkelin zu sich winkte. 

Eilig huschte Nah-hak zu mir zurück und nahm seinen angestammten Platz ein. 

Rai umarmte mich, während ich ganz nah an ihrem Ohr murmelte: »Ich komme bald wieder und dann sprechen wir gemeinsam mit den Schatten.« 

Ihr Lächeln war das Letzte, was ich sah, bevor die Dunkelheit meine Gestalt verschluckte.


Raiden wartete unter dem steinernen Torbogen. Die Arme verschränkt und mit hochgezogenen Brauen musterte er mich eindringlich. »Bei der Schattensonne, was hat denn so lange gedauert? Im Düsterwald hätte ich bereits Moos angesetzt.« 

Grinsend warf ich ihm die in groben Stoff gewickelte Schachtel zu. 

Seine Augen wurden groß. »Du warst bei Varen?« 

Ich trat an meinem Freund vorbei und die Schatten fielen wie Regentropfen aus meinen Ärmeln, sammelten sich in wabernden Pfützen zu meinen Füßen. »Komm schon, ich setze bereits Moos an.« 

Raidens empörtes Schnauben ging im vertrauten Flüstern unter, das mich fort von Teavas und hinein in das Herz des Waldes brachte.

Das Holz knarrte unter meinen Stiefeln. Der Geruch von nassem Laub war mir, ebenso wie der dichte Nebel, inzwischen so vertraut wie die Finsternis selbst. Langsam nahm die Szenerie um mich herum Form an. Meine Sinne schärften sich, und ich hörte Raidens Atemzüge lange bevor seine Umrisse zu meiner Rechten sichtbar wurden. »Du kannst froh sein, wenn ich dir etwas übriglasse, Flüsterer.« 

»Du meinst von denen hier?« Ich hob das Päckchen hoch und stieß leise lachend die Tür auf, während mir mein Begleiter ungläubig murmelnd folgte. 

Meine Mutter hob den Kopf, als wir eintraten. Sie lehnte an ihrem Schreibtisch, und das Funkeln ihrer Iriden ließ mich augenblicklich verstummen. Eine Gänsehaut rann meine Arme hinab, und eine unnatürliche Kälte ergriff von mir Besitz. »Ihr seid zurück, wie erfreulich.« 

Stirnrunzelnd erwiderte ich ihren Blick und spürte im selben Moment, wie Raiden nach meinem Handgelenk griff. »Khaos ...« 

Ich sah in sein fassungsloses Gesicht. Seine Augen fixierten etwas oder jemanden, der hinter mir den Raum betreten hatte. 

Ich wandte mich um und erstarrte. Die Stimme meiner Mutter drang kaum hörbar an meine Ohren, während mein Herz drohte in Flammen aufzugehen. »Ich habe soeben den Handelskrieg für uns entschieden.« Zum ersten Mal seit zehn Mondjahren traf Weiß auf Nachtschwarz ...


8 - Alamea


Die kühle Umarmung der Schatten war feuchtkaltem Nebel gewichen, der unnachgiebig unter meine viel zu dünnen Kleider kroch und sich in meinen Knochen festzusetzen schien. Zu überrumpelt, um mich gegen den harten Griff an meinem Arm zu wehren, stolperte ich hinter der Merakî durch eine verwitterte Holztür.

Die Hütte sah aus, als wäre sie aus Treibholz erbaut worden. Der modrige Geruch des Sumpfes drang durch die Wände, die Fensterscheiben waren trüb und ließen kaum Licht ins Innere. Der Boden knarzte bedenklich unter den schweren Stiefeln der jungen Frau, die mich endlich losließ und zur Seite trat. Jedoch gerade so weit, dass ich in ihrer Reichweite blieb.

Ich fröstelte und mein Knöchel pochte noch immer unangenehm, dennoch richtete ich mich auf und reckte das Kinn. Eine hochgewachsene Frau mit scharfen Gesichtszügen und stechenden Augen stand mir gegenüber. Ihre dunklen Haare waren zu einem strengen Knoten gebunden. Ich versuchte mich zu erinnern, wo ich sie schon einmal gesehen hatte, während sie mich mit einem zufriedenen Lächeln musterte. 

»Willkommen in Andtherâ, Prinzessin Alamea.« 

Auch wenn ich gewusst hatte, dass ich nicht mehr in Barash sein konnte, krampfte mein Magen sich bei ihren Worten schmerzhaft zusammen. Die Heimat meiner Mutter auf diese Weise zum ersten Mal zu betreten, fühlte sich falsch an. Als wäre ich ein Fremdkörper, der nicht hierhergehörte.

»Was hast du getan?«

Ein Schauer fuhr durch meinen Körper. Diese Stimme ... Erst jetzt bemerkte ich die dritte Person in dem schmal geschnittenen Raum.

Schatten umwölkten seine Gestalt, als wollten sie ihn schützen. Ihn vor der Welt verbergen. Sie tanzten über seine Haut, reckten sich zu seinen Fingerspitzen und seinen Nacken hinauf bis sie sich in den ungestümen Strähnen seines schwarzen Haares verloren. Er hatte mir den Rücken zugewandt, stand zwischen mir und der Frau, die Hände zu zitternden Fäusten geballt, den Blick starr auf sein Gegenüber gerichtet.

Vielleicht hatte ich mich getäuscht. Meine Sinne spielten mir einen Streich. Er konnte nicht ... oder?

»Haben die Schatten dich gänzlich verlassen?«

Ich täuschte mich nicht. Nicht die Schatten hatten zu mir gesprochen, er war es gewesen. Aber was könnte ich ihm angetan haben, dass er so verletzt klang? Oder brachten alle Merakî mir diese Art von hoffnungsvoller Wut entgegen? 

Die harschen Worte brachten die Frau dazu, ihren durchdringenden Blick von mir zu lösen. Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken, die triumphierende Kälte in ihren Augen blieb. Doch nicht sie antwortete.

»Was denn, Khaos? Enttäuscht, weil du die Prinzessin nicht holen solltest?« Die Merakî, die mich hergebracht hatte, grinste verschlagen. Ein Kragen aus mitternachtsschwarzen Federn betonte ihren schlanken Hals und verlieh ihr eine geheimnisvolle Schönheit. Sie wäre eine sehr hübsche Frau, mit feinen Gesichtszügen, wenn Überheblichkeit und Arroganz nicht aus jeder Faser ihres Körpers dringen würden. 

Ein Zittern erschütterte das diffuse Licht im Raum. Die Schatten bäumten sich auf, wogten einer Welle gleich den Wänden entgegen, prallten von ihnen ab und legten sich um den Oberkörper der Frau. Zogen sich zusammen wie ein zu eng geschnürtes Korsett.

Ihr Blick flackerte. Der Hochmut geriet ins Wanken, zerbarst unter der Last der fehlenden Luft.

»Khaos.«

Die letzte Silbe aus dem Mund der hochgewachsenen Merakî mit den unbarmherzigen Augen war noch nicht verklungen, da zog die Dunkelheit sich zurück. Floss über die morschen Dielen und legte sich erneut wie ein schützender Vorhang um die Gestalt des jungen Mannes.

War er das gewesen?

»Âme, du kannst gehen. Raiden, du ebenfalls.«

Die junge Frau neben mir stieß ein dumpfes Grollen aus, wandte sich jedoch ohne ein weiteres Wort ab und verließ die Hütte. Hinter dem Merakî namens Khaos trat eine Silhouette hervor. Ein junger Mann mit einem merkwürdigen Ring in der Lippe, der mich ansah, als hätte er bisher an meiner Existenz gezweifelt. Vor mir stoppte er und musterte mich einen Moment. Er holte Luft ...

»Raiden.« Ein warnendes Knurren begleitete die Worte von Khaos.

Der Angesprochene rollte mit den Augen und zwinkerte mir zu, bevor er die Hütte verließ. Das gequälte Knarren der Angeln war das einzige Zeichen, dass er tatsächlich gegangen war. Offenbar besaß die Tür kein Schloss mehr oder es funktionierte nicht.

»Ich dulde ein derartiges Verhalten nicht, Khaos. In deiner Position solltest du lernen, deine Gefühle unter Kontrolle zu halten.« Ihre Stimme war völlig ruhig. Fast schon gleichgültig. Alles an dieser Frau strahlte Erhabenheit aus. Sie hatte das Auftreten einer Person, die zu jedem Zeitpunkt wusste, dass sie die mächtigste im Raum war. Eine Anführerin. Und da wurde mir bewusst, woher ich sie kannte. Vor mir stand Rîona, die Statthalterin von Andtherâ. 

Mir blieb keine Zeit überrascht zu sein. Meine Aufmerksamkeit wurde wieder von der Stimme eingenommen, die aus den Schatten gesprochen hatte. Sie wankte, drohte von unterdrückter Wut und Missfallen erstickt zu werden. »Du irrst dich. Du hast den Handelskrieg nicht gewonnen, du hast ihn schlimmer gemacht.«

Seine Worte hingen in der Luft, gleichermaßen eine Drohung und eine Warnung. Er wartete keine weitere Antwort ab.

Die Schatten verdichteten sich, wölbten sich seine Beine hinauf, verschluckten Zentimeter um Zentimeter seiner Gestalt bis zu seinen Schultern. Er drehte sich um und mein Herz blieb stehen.

Mitternachtsblaue Augen und die Sterne über Andtherâ. Die Augen aus meinem Traum, denen mein eigenes so sehr glich. 

»Du?«, wisperte ich, und die Schatten rissen den Laut von meinen Lippen. Trugen ihn zu ihm. 

Bevor die Dunkelheit ihn mit sich nahm, sah ich, wie seine Kiefermuskeln zuckten, und ein Blick traf mich, der aussah, wie mein Name auf seinen Lippen geklungen hatte. Als wäre ich tödliches Gift in seinen Venen und das einzige Gegenmittel dafür.

»Khaos ist zu temperamentvoll, aber keine Sorge, er wird nicht in Eurer Nähe sein, solange Ihr hier seid.« Die Stimme der Merakî riss mich aus meinen Gedanken. Sie klang sanfter als gerade noch. Ich hörte die Lüge dieser Klangfarbe so deutlich wie einen falschen Ton in einer perfekten Melodie. Es war lediglich ein Versuch, mich in Sicherheit zu wiegen, mir meine Furcht zu nehmen.

»Er hat mir nicht aufgelauert und mich verschleppt. Wieso sollte ich seine Nähe fürchten?« Die Statthalterin von Andtherâ mochte die mächtigste Frau in den Schattenlanden sein, dennoch war sie niemand, der meine Maske ins Wanken bringen konnte. Obwohl ich nicht wusste, weshalb sie mich hergeholt hatte, würde ich ihr meine Verunsicherung nicht zeigen. Wenigstens das hatte mein Leben hinter Mauern aus weißer Perfektion mich gelehrt. 

Die Augenbraue der Merakî zuckte kaum sichtbar nach oben. »Ich nahm an, es würde mehr in Euch auslösen, aber vielleicht wart Ihr damals doch noch zu jung.«

Ich runzelte die Stirn. Versuchte einen Sinn hinter ihren Worten zu finden. Spielte sie darauf an, dass ich das erste Mal Kontakt zu den Wurzeln meiner Mutter hatte? Oder darauf, dass ich in den letzten zehn Sonnenjahren nie von so viel Schatten und Dämmerlicht umgeben gewesen war?

»Wie dem auch sei, wir sind nicht hier, um in der Vergangenheit zu schwelgen.«

Ich straffte die Schultern. »Nein, offensichtlich sind wir hier, weil Ihr einen Handelskrieg gewinnen wollt, den es meines Wissens nach nicht gibt. Aber vielleicht wollt Ihr euch erst einmal vorstellen.«

Der Mundwinkel der Merakî zuckte verdächtig. Offenbar amüsierte ich sie, auch wenn ich nicht wusste, ob das gut war. »Das heißt, Ihr wisst nicht, wer ich bin, Prinzessin?«

»Doch natürlich, weiß ich das. Aber die Höflichkeit gebietet, nicht einfach Vermutungen über das Gegenüber anzustellen.«

Ein Lachen wie kalter Regen hallte durch die Hütte. »Wenn das so ist. Rîona, Statthalterin von Andtherâ und oberste Senkâ. Darf ich die Annahme treffen, dass Ihr die Tochter von König Nevân seid? Ewige Prinzessin der erstarrten Stadt Barash?«

Ich würdigte ihrer Spitze keine Antwort. »Habt Ihr keine Angst mich hier zu haben?«

»Droht Ihr mir?«

Erneut konnte ich nur die Stirn in Falten legen. »Nein, aber es gibt Gründe, weshalb ich Barash noch nie verlassen habe. Fürchtet Ihr nicht, die Schattenlande könnten dasselbe Schicksal erleiden wie die Hauptstadt?«

Ihre gleichgültige Miene flackerte. Das erste Mal schimmerte eine echte Emotion in ihren dunklen Augen. »Ich gebe nicht viel auf die Geschichten, die man sich erzählt. Was bei Eurer Geburt geschehen ist ...« Sie räusperte sich. »Wird sich niemals wiederholen. Das Einzige, woran ich glaube, ist, dass Ihr niemals eine Seite wählen dürft, Prinzessin.«

Mein Titel aus ihrem Mund klang seltsam. Nicht abschätzig oder verfluchend, wie bei den Bediensteten oder den Beratern meines Vaters, aber auch nicht wie eine Ehrerbietung. Als hätte sie einfach akzeptiert das er da war, ohne sich weiter darum zu kümmern.

Ihre Worte überraschten mich. Ich hätte niemals vermutet, dass es noch Menschen gab, die sich dem Aberglauben nicht hingaben. »Wieso bin ich hier?«

Sie lehnte sich an ihren Schreibtisch, der aussah, als würde er bereits seit Jahrhunderten an dieser Stelle stehen. »Die Lucid untergraben den Handel. Es gibt nur noch wenige, die die Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, um uns mit Lumix zu versorgen.«

»Ihr wollt sie erpressen?« 

Ein bitteres Geräusch drang aus ihrer Kehle. »Natürlich klingt das aus dem Mund einer Lucid-Spielfigur wie eine furchtbare Tat, aber was bleibt mir? Soll ich zusehen, wie unsere Städte verfallen und die Schatten meine Bevölkerung verschlingen?«

Ihre Offenheit überraschte mich, und ein Stich fuhr durch mein Herz. Ich hatte nicht gewusst, dass es so schlecht um Andtherâ stand. Dass durch die Verordnungen meines Vaters Merakî Leben auf dem Spiel standen.

Meine Mutter wäre enttäuscht von mir. Sie war mutig gewesen. Hatte sich gegen alle Konventionen gestellt, um mit der Liebe ihres Lebens zusammen zu sein. Ich konnte mich nicht einmal gegen die Berater meines Vaters stellen und einfordern, was längst hätte getan werden müssen.

»Es tut mir leid, das wusste ich nicht.« Die Worte schmeckten fahl wie das brackige Sumpfwasser um uns herum. 

Rîona wusste ebenso gut wie ich, dass meine Entschuldigung nutzlos war. Dass ich nichts ausrichten konnte. Die ewige Prinzessin, erstarrt in unberührtem Weiß, wie die Hauptstadt. Meine Geburt hatte ihr die Farbe genommen, der Verlust meiner Mutter das Leben.

Mein Gegenüber musterte mich. »Solange Ihr unser Gast seid, werde ich Euch in einer eigenen Hütte unterbringen.«

»Habt Ihr keine Sorge, dass ich fliehen könnte?« Mir war klar, dass allein die Frage auszusprechen, verdeutlichte, dass ich nicht vorhatte zu verschwinden. Wer wäre so überheblich, seine Fluchtpläne anzukündigen? 

Die Lippen der Merakî verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. »Dachtet Ihr wirklich, ich würde Euch nicht bewachen lassen?«

Sie hob leicht die Hände und ihre Finger begannen einen eigentümlichen Tanz. Als würden sie einer Melodie lauschen, die niemand sonst hören konnte. Die Schatten im Raum  waberten, zerfaserten zu rauchgrauen Schlieren und sammelten sich zu meinen Füßen. Sie setzten sich zu einer Art Raubkatze zusammen, nur um ihre Form sofort wieder zu verlieren und sich erneut zu verdichten. 

»Was ist das?«, wisperte ich. Vorsichtig, als könnte allein der Luftzug meines Atems den flüchtigen Nebel zerstreuen.

»Euer Wächter. Er weiß, wo Eure Hütte ist und wird Euch dorthin bringen.«

Als hätte das Schattenwesen ihre Worte vernommen, schnellte sein Kopf zu mir herum und gab ein fauchendes Geräusch von sich. Dennoch verspürte ich weniger Furcht als Faszination dem Tier gegenüber. Einzig die schwarzen Zähne, die es entblößte, hielten mich davon ab, meine Finger danach auszustrecken.

»Ihr könnt jetzt gehen.« Ihre Finger erteilten einen stummen Befehl, bevor sie ihren Schreibtisch umrundete, und die Schattenkatze schnappte nach meinem Rocksaum. 

Instinktiv wich ich zurück und stolperte Richtung Tür. Bevor ich diese aufstoßen konnte, hob Rîona noch einmal den Kopf. 

»Und Prinzessin, solltet Ihr trotz meines Wächters in Erwägung ziehen, einen Weg zur Flucht zu suchen, solltet Ihr eure Schritte mit Bedacht setzen. Der Fall ist tief, für jemanden, der keine Schatten zu Hilfe hat.«

Sie wandte sich ab und verzichtete darauf, mir zu erklären, was sie damit meinte. Ohne eine Verabschiedung trat ich hinaus und ließ die Tür hinter mir zufallen. Das Katzenwesen folgte mir und gab unentwegt zischende und fauchende Geräusche von sich. 

Dämmriges Zwielicht umfing mich, und was ich bei meiner Ankunft für eine hölzerne Terrasse gehalten hatte, stellte sich als Plattform heraus, die zwei mächtige Bäume miteinander verband. Die Hütte stand in ihrer Mitte, umwachsen von feinen Ästen und dünnem blassgrünem Laub. Nur eine einzige marode aussehende Brücke führte von der Erhöhung in eine undurchdringliche Dunkelheit zwischen Baumkronen. Es gab keine Geländer, auch an der Brücke nicht.

Humpelnd tastete ich mich an den Rand des Plateaus und spähte nach unten. Dichter Nebel wand sich mir entgegen und verschleierte den Boden. Eine Gänsehaut kroch meine Arme hinauf. Die Schattenlande waren deutlich kühler als Barash und mein Kleid absolut ungeeignet für einen derartigen Weg. 

Dennoch verbot mein Stolz es mir, wieder zurückzugehen und die strenge Merakî um Hilfe zu bitten. Ich krallte die Finger in den Stoff meines Rockes und raffte ihn zusammen, um nicht darüber zu stolpern. Als ich den ersten Schritt auf das wankende Holzkonstrukt tat, schob sich Rîonas Wächter zischend vor mich und drängte mich zurück.

Ich drehte mich im Kreis und suchte die Umgebung ab. »Es gibt nur diesen Weg. Wohin soll ich gehen?«

Die Silhouette zerfloss, waberte und dehnte sich aus. Flügelähnliche Gebilde wuchsen aus der Dunkelheit, reckten sich mir entgegen und umschlangen mich mit Fäden aus tiefstem Schwarz. Sie nahmen mir die Sicht, und ich spürte, wie meine Füße den Boden verließen.

Ich öffnete die Lippen zu einem tonlosen Schrei. Kälte füllte meine Lunge und erstickte jeden Laut. Mein Magen rebellierte und krampfte sich schmerzhaft zusammen.

Dann war es vorbei.

Mein Körper wurde freigegeben und ich landete unsanft auf den Füßen. Schmerz durchzuckte meinen verletzten Knöchel und ließ mich straucheln. Meine Sicht klärte sich, und ich fand mich auf einer weiteren Plattform wieder.

Dichtes Blattwerk und armdicke Ranken umgaben sie und hüllten die kleine Hütte in ihrer Mitte in einen Kokon aus blassgrün und grau. Einsame Strahlen des Lichtmondes brachen durch die lebendigen Wände und verliehen allem einen geheimnisvollen Schimmer. Als wäre dieser Ort ein Geschenk des Sumpfes, das er versuchte vor ungebetenen Gästen zu schützen.

Rîonas Schattenwesen hatte seine wabernde Katzengestalt zurück und lief unstet über den kleinen Vorplatz. Es beachtete mich nicht weiter und gab nur noch vereinzelt zischende Laute von sich. Langsam, um es nicht aufzuschrecken, machte ich einen Schritt nach vorne.

Feine Partikel tanzten in den Lichtbahnen. Die Luft war kälter, aber frei von feuchten Nebelschwaden. Die Bäume der Sümpfe mussten höher sein als jedes Gebäude in Barash, wenn selbst die schwebenden Dunstwolken der Erde nicht bis nach hier oben dringen konnten.

Die Holztür der verwitterten Hütte war geborsten, dennoch schwang sie völlig lautlos auf. Einnehmende Finsternis schlug mir entgegen. Der trübe Schein, der mich ins Innere begleitete, schaffte es kaum, den kleinen Tisch zu erreichen. Die Füße am Boden haltend tastete ich mich vorwärts, um nicht zu stolpern. Es gab keine Fenster, die das wenige Licht von außen willkommen heißen könnten. Lediglich eine kleine Laterne stand auf dem schmalen Holztisch, in deren Mitte eine Lumix flackerte. Ein Glühwürmchen in einer sternenlosen Nacht.

Nach einer Weile schien die Dunkelheit sich zu beruhigen, akzeptierte den Eindringling und lichtete sich ein wenig. Die Hütte war klein, kaum fünf Schritte lang. In der Ecke lag eine Schlafmatte, deren Anblick mir die bleierne Müdigkeit in meinem Körper deutlich machte. Mein Knöchel pulsierte in einem quälenden Rhythmus und die Last der vergangenen Lichtläufe drückte auf meine Schultern. 

Erschöpft sank ich auf die weiche Unterlage und rollte mich ein. Die Kälte der Sümpfe kroch unbarmherzig unter den Stoff meines Kleides und über meine nackten Arme. Die dünne Decke spendete nur wenig Wärme, dennoch zog ich sie über mich und schloss die Augen. Vergeblich tastete ich nach meinem Medaillon. Meinem Anker. Es war nicht da.

Mitternachtsblaue Augen fanden meinen unruhigen Geist. Der Klang seines Namens erfüllte den Raum. Als würden die Schatten selbst ihn flüstern. 

Meine Lippen formten die Buchstaben. Hießen sie willkommen wie alte Freunde. Beruhigten meine aufgewühlten Gedanken wie eine tröstende Umarmung.

Wie konnte der Name des Mannes, der mich ansah, als wäre ich sein persönlicher Untergang, diese Wirkung auf mich haben? Ich sah ihn vor mir, kurz bevor die Schatten ihn fortgetragen hatten.

Er musste ungefähr in Elios Alter sein. Ein Keress. Eine seltene und mächtige Gabe, wenn ich mich richtig an meine wenigen Lehrstunden zur Geschichte des Schattenvolkes erinnerte.

Wieso hasste er mich so sehr? Was hatte ich ihm angetan? Oder war es einfach der Umstand, dass ich am Leben war und die Regeln meines Vaters akzeptierte, während sein Volk darunter litt?

Khaos.

Ich wagte es, seinen Namen zu flüstern. Vertraute ihn der Dunkelheit an, wie mein persönliches Geheimnis. Hoffend, dass sie mich nicht verraten würden und mit dem Wunsch, er könnte mich hören.

 


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