Kapitel 2
Taylor Swift – Bigger Than The Whole Sky
Nachdem der Trubel Backstage vorbei gewesen ist, haben wir uns umgezogen und mit Champagner und Orangensaft auf die phänomenale Aufführung angestoßen. Anschließend sind Oliver, Emily, Simon, Maurice, dessen fester Freund Lukas und ich zur ruhigen Steilküste in Wulfen gefahren. Wir lassen den Abend ausklingen, mit gerösteten Marshmallows, Stockbrot und Getränken – Mischbier für Emily, Oliver und Lukas, Cola für Simon, Maurice und mich. Wir müssen fahren, und ich bin gerne Herrin meines Verstandes, Alkohol trinke ich nicht.
Im Gegensatz zu dem Rüschenkleid spüre ich den Stoff meines elfenbeinfarbenen Sommerkleides kaum, über dem ich eine hellblaue Jeansjacke trage. Meine Zehen sind in dem noch leicht erwärmten Sand vergraben, die weißen Riemchensandeln stehen neben mir. Seichter Wind braust die Ostsee auf und spielt mit meinen Locken. Marshmallow- und Lippenstift-Reste kleben an meinem Mund.
Nach Sommerabenden wie diesen sehne ich mich im Winter, wenn sich Eiskristalle und Sand aneinanderreihen wie Perlen an einer zerrissenen Schnur. Die Sonne schmilzt in der Ostsee und färbt die Schaumkronen der aufsprudelnden Wellen in zartem Sommerorange, Magenta und Goldgelb. Dieselben Muster zerreißen den Himmel, die ersten Sterne besticken den nachtblauen Samt mit Nadelspitzen in strahlendem Silber.
Zwischen uns knistert ein Lagerfeuer, die Funken tanzen durch die Luft. Unsere Gesichter konturiert das Flammenleuchten in diffusem Schein und gibt ihnen etwas Unwirkliches, als würden wir gemeinsam denselben Traum von einem nie endenden Sommer träumen.
Gedankenverloren drehe ich mein Stockbrot im Feuer, der Teig färbt sich goldbraun. »Das fühlt sich unwirklich an«, murmele ich.
Oliver sitzt neben mir, einen Arm hat er um Emily geschlungen, auf deren goldbrauner Haut das Feuer filigrane Muster zeichnet. »Bis unser Studium im Oktober anfängt, haben wir alle Zeit der Welt.« Sein Blick schweift zum Horizont. Mit ihren Zacken ribbeln die Sterne die letzten zarten Fäden des Sonnenuntergangs auf. Silbernes Licht ergießt sich über uns. »Wir können tun und lassen, was wir wollen.«
Seufzend schmiegt sich Emily an ihn. »Ich habe eine Woche Sommerferien, bevor ich mich in das Abenteuer des dreizehnten Schuljahres stürzen muss.«
Maurice lächelt ihr aufmunternd zu. »Dafür warst du in den Ferien mit Lucies und Olivers Familie in Los Angeles, und die Aufführung war großartig. Die Erinnerungen nimmt dir niemand.« Seine Stirn kräuselt sich. »Trotzdem weiß ich, wie du dich fühlst. Vor einem Jahr hat sich mein FSJ endlos weit entfernt angefühlt, nächste Woche beginnt es.«
Simon fährt sich durch das dunkelblonde Haar. »Genau wie meine Ausbildung.« Diese wird er in einer Agentur für Webdesign in Oldenburg absolvieren.
Ich ziehe mein Stockbrot aus der Glut und drücke auf den goldbraunen weichen Teig. »Ich kann es kaum erwarten, wenn Olivers und mein Studium beginnt.«
Emily verdreht die Augen. »Du bist zu ungeduldig. Selbst dein Stockbrot isst du roh, wir sind nicht schuld, wenn du morgen Bauchschmerzen hast.«
»Roh schmeckt es am besten.« Ich nehme einen Bissen – außen knusprig, innen weich.
Ihr Lachen schwebt auf den lauen Böen davon.
»Das Abenteuer dreizehnte Klasse wirst du meistern«, verspricht Oliver Emily und drückt ihr einen Kuss auf die dunklen, mit der Nacht verschmolzenen Strähnen.
»Hoffentlich …« Ihre Stimme bebt, wie die Wellen unter dem Säuseln des Nachtwindes. »Ich möchte mir nicht vorstellen, dass wir uns bald nur an den Wochenenden sehen.«
»Nächstes Jahr ziehst du zu Lucie und mir nach Hamburg, und es bleiben drei Monate bis zu unserem Studienbeginn. Wenn die Schule anfängt, haben wir die Nachmittage für uns.«
Wortlos überbrückt Emily die Distanz zwischen ihnen, um ihn zu küssen.
Strömungen widersprüchlicher Emotionen prallen in meinem Inneren aufeinander. Sollte ich froh sein, keine feste Freundin zu haben und somit nicht die Aussicht auf eine Fernbeziehung? Wehmütig? Erleichtert, dass ich in einem Jahr eine Wohnung für mich habe, wenn Emily und Oliver zusammenziehen? Der Gedanken daran, mehr als einen Flur durchqueren zu müssen, um ihn zu sehen, schnürt mir die Luft ab. Genauso ist es mir anfangs mit der Beziehung von Emily und Oliver ergangen. Vor drei Jahren ist aus den Knospen ihrer Freundschaft mehr erblüht. Anfangs ist die Tatsache, dass Oliver eine feste Freundin hat, ätzendem Gift gleich in meinen Verstand gesickert. Er ist mein Doppelstern, ich habe mich gefühlt, als hätte sich unser gemeinsamer Schwerpunkt verschoben. Als sei er davongetrieben in eine andere Galaxie, und ich müsse allein durch die unendlichen Weiten des Alls treiben. Bis mir klargeworden ist, dass Emily nichts zwischen Oliver und mir verändert. Seitdem macht mein Herz jedes Mal, wenn ich sie zusammen sehe, einen Hüpfer. Im Urlaub in Los Angeles sind sie jede Sekunde beieinander gewesen, und ich habe nichts vermisst, sondern mein gemeinsames Abenteuer mit Charlie aus den zwei Wochen erschaffen und einen gemeinsamen Takt gefunden. Wir haben uns wie die Königinnen der Sandburgen gefühlt, welche wir erbaut haben. Feinkörnige Mosaike, die auf ewig als Erinnerung in meinem Herzen überdauern werden, wie die Fotos und die TikToks, die Charlie und ich aufgenommen haben.
»Was ist los?«, fragt Simon. Das Mondlicht besprenkelt sein dunkelblondes Haar mit Silber, in seinen Brillengläsern spiegeln sich die Sterne.
Ich streiche mir eine Locke aus dem Gesicht. »Ich denke an Los Angeles, am liebsten würde ich mit Charlie dorthin zurück.«
»Schon verstanden. Wir sind nicht eingeladen.« Oliver legt den Kopf schief. »Was habt ihr in Los Angeles die ganze Zeit gemacht?«
»Das ist ein Geheimnis unter Schwestern, und dafür solltest du dankbar sein. Wir haben Emily und dir Raum gegeben.« Die Note in dunklem Moll von vorhin echot durch mein Inneres, übertönt das zarte Dur der Erinnerungen an Los Angeles. »Davor habe ich darüber nachgedacht, dass ich froh bin, keine feste Freundin zu haben.«
Simon stupst mich mit der Schulter an. »Vielleicht lernst du in Hamburg eine Co-Darstellerin kennen.«
»Meine Rede«, meint Oliver.
Fragil und pastellfarben, wie eine Seifenblase im Wind, schwebt der Gedanke durch meinen Geist. Eine Co-Darstellerin würde verstehen, dass die Musik meine große Liebe ist. Anders als die Frauen, mit denen ich meine Erfahrungen gemacht habe. Eine richtige Beziehung ist aus ihnen nie gewachsen, und ich vermisse nichts, von dem ich nicht weiß, wie es sich anfühlt. Andererseits würde eine Co-Darstellerin sich nicht damit zufriedengeben, mein Licht zu reflektieren, sondern sich einen Platz neben mir im goldenen Schein wünschen. Die Seifenblase zerplatzt und tropft mir von den Fingern. Lieber strahle ich so hell, dass ich andere blende, als mich in die Schatten zurückzuziehen.
Ich recke das Kinn. »Sicher nicht. Ich bin unabhängig und glücklich, wie grand-mère Marie.«
Simon stupst mich mit der Schulter an. »Das kannst du nicht planen.«
»Doch. Das tut sie, indem sie keine Frau in ihren Eispalast lässt«, meint Oliver.
Ich schnaube, und er weicht lachend einem halbherzigen Schlag meinerseits aus.
»Wer hat Lust, schwimmen zu gehen?«, wechselt Oliver das Thema; meine Miene ist wohl so eingefroren, dass er die Unterhaltung als beendet ansieht.
Emily und ich bleiben am Strand, die anderen stürzen sich in die tiefdunklen Wellen.
Sie wendet sich mir zu, Haar wie aus der Nacht gewoben umrahmt ihr Gesicht, in ihren Augen schimmern Abgründe, und Besorgnis zerrt an ihren Zügen. »Du wirst in Hamburg auf Oliver aufpassen, oder?«
Ihre Worte treffen mich tiefer, als sie sollten. Als ich antworte, fühlen sich meine Lippen an wie mit Steinen beschwert. Dabei sind sie bloß verklebt von dem Marshmallow-Lippenstift-Teig-Gemisch, und es auszusprechen sollte sich selbstverständlich anfühlen. »Natürlich. Das tun wir ein Leben lang.«
Ihr Gesicht glättet sich. Sie schnappt sich ein Marshmallow und beginnt mit vollem Mund zu spekulieren, welches Stück Nicolas und grand-mère Marie für die Weihnachtsaufführung planen. Für Die Eiskönigin würde Emily ihre Elsa fehlen, wenn ich nicht mehr da bin, obwohl es kein Musical gibt, das besser zu Eis und Schnee passt. Falls es Disney wird, passt ihrer Meinung nach auch Die Schöne und das Biest. Nicht, dass ihre Liebe für Disneyfilme ihr Urteilsvermögen färben würde. Grand-mère Marie würde sicher lieber etwas Klassisches wie Les Misérables sehen. Oder sie schreibt Emily ein Musical auf den Leib, jetzt, wo ihr Schatten nicht länger in meinem Rampenlicht verblasst.
Ihre Worte rauschen an mir vorbei, wie die nahen Ostseewellen, an denen mein Blick haftet. Auf den nachtblauen Wogen treiben vereinzelte Lichtpunkte. Ferne Schiffe, welche das Schicksal auf ihre Reise zu neuen Ufern schickt. Scheinbar ziellos folgen sie einem feststehenden Pfad – hoffentlich verhält sich das mit den kommenden Monaten ähnlich. Ich möchte keine drei Monate ziellos umhertreiben.
Wolken schieben sich als schwarzglitzernder Vorhang vor die Sterne, ihre Zeit auf der Bühne ist abgelaufen. Die Silhouetten der wagemutigen Schwimmer unter uns lösen sich aus den Schatten am Ufer, als sich die Wolken für einen ersten wispernden Regenguss öffnen. Zischend perlen die kristallenen Tropfen auf das Lagerfeuer, aufgebracht schwirren Feuerglühwürmchen zum Firmament, ehe sie in Rauchschwaden verdunsten.
»Ostseeklima – unbeständig wie eh und je«, grummelt Oliver.
Emily rückt von ihm ab, als er sich die Wassertropfen aus den Locken schüttelt. Von dem Haargel fehlt, spätestens seit dem Schwimmen, jede Spur. Anschließend lässt sie sich von ihm an der Hand auf die Füße ziehen. »Die spontanen Regenschauer werden dir in Hamburg erhalten bleiben.«
»Ich hätte in Berlin studieren sollen.«
Sie schnappt nach Luft.
»Das war ein Scherz«, versichert er ihr.
Alle, die Schwimmen gewesen sind, ziehen sich an, der Regen löscht das Lagerfeuer, und wir packen in der Dunkelheit unsere Sachen zusammen.
Nasser Sand haftet zwischen meinen Zehen, die Sandalen halte ich auf dem Weg zur Straße in der Hand. Das dünne Kleid klebt an meiner Haut, die Jeansjacke eignet sich bedingt als Regenschutz.
Mein kirschroter Mini Cooper, den mir grand-mère Marie letzten November zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hat, erwartet mich am Straßenrand. Seine Oberfläche bricht das diffuse Silberlicht, schimmernde Muster versprechen eine sichere Fahrt nach Hause.
Wir verabschieden uns voneinander, zuletzt ziehe ich Simon in eine feste Umarmung. »Fahr vorsichtig«, flüstere ich ihm ins Ohr.
»Ich habe den Motorradführerschein nicht seit gestern.«
Ich werfe seinem rauchschwarzen Motorrad, das neben meinem Mini Cooper parkt, einen missbilligenden Blick zu. »Das ändert nichts daran, dass es eine Höllenmaschine ist.«
Er drückt mich an sich, Salzwassergeruch steigt mir in die Nase. »Ich passe auf mich auf.«
»Ruf mich an, sobald du zu Hause bist«, gebe ich ernst zurück.
»Versprochen.« Mit diesen Worten lässt er mich los und wird von der Dunkelheit verschluckt.
Vertraute Finger gleiten zwischen meine. »Du machst dir zu viele Sorgen. Simon fährt immer vorsichtig und sein Weg dauert fünfzehn Minuten.«
Meine Nasenflügel zucken unter einem Schnauben.
»Kommt ihr?« Emily schlingt die Arme um ihren zitternden Körper. »Wenn ich mir ein Bad gewünscht hätte, wäre ich mit euch schwimmen gegangen.«
Ich klaube meine Autoschlüssel aus meiner Handtasche, die Vorderlichter flackern, zwinkern mir zu, als wollten sie mir versichern, dass alles in Ordnung ist.
Oliver lässt meine Hand los, ein mulmiges Gefühl strömt in mein Inneres und sammelt sich in meiner Brust. Er setzt sich mit Emily auf die Rückbank. Ich gleite auf den Fahrersitz und drehe die Lautsprecher auf, um das Prasseln des Regens zu übertönen, welches meine Sinne vernebelt. Während ich den Mini Cooper auf die Straße lenke, erfüllen die Klänge von Die Musik der Dunkelheit aus Das Phantom der Oper das Innere des Wagens.
Schattenfingern gleich, greift die Symphonie nach mir, bringt meine Saiten ins Stocken und will mich durch die Frontscheibe zerren, in von silbern funkelnden Kristallen besprenkelte Düsternis. Wie Donnergrollen hallen die Töne in meinem Kopf nach, übertönen die Unterhaltung von Oliver und Emily. Mit klammen Fingern taste ich nach den Pfeilen auf dem Touchpad, auf der Suche nach einer Melodie in Dur …
Gleißendes Weiß erhellt die Finsternis, nähert sich uns in rasender Geschwindigkeit.
»Lucie, pass auf!«, schreit Oliver.
Vor einem Herzschlag habe ich mir Fackeln gewünscht, welche der Nacht die Finsternis nehmen. Jetzt sind sie der Abgrund, welcher sich vor mir auftut, und ich balanciere auf einem Drahtseil darüber, während tosender Wind an mir reißt.
Mit voller Wucht trete ich auf die Bremse, reiße im selben Moment das Lenkrad herum. Meine Ohren fangen ein Kreischen auf – Emily.
Mit zusammengebissenen Zähnen umklammere ich das Lenkrad, mein Herz rast im Takt des prasselnden Regens. Die Reifen schlittern über den Asphalt. Bevor der Wagen zum Stehen kommt, zerreißt ein ohrenbetäubender Knall mein Trommelfell.
Alles um mich herum explodiert in glühendem Weiß, das sich wie Feuer auf meine Haut legt, an meinen Knochen schabt und meine Beine in Flammen setzt. Licht sticht mir in die Augen, brennende Nadeln, die ich nicht herauszuziehen vermag. Ein Schrei möchte sich meiner Kehle entringen, ich schmecke Metall, will mit den Beinen strampeln. Schmerz flammt in mir auf, als fließe Lava durch meine Adern.
Die Welt kippt zur Seite. Ich bin schwerelos, werde herumgeschleudert und bin nicht in der Lage, meine Flügel auszubreiten. Ein zweiter Knall geht mir durch Mark und Bein. Mein Kopf wird nach hinten gerissen, das Echo des Aufpralls hallt in dessen Innerem nach, wie Pfeilspitzen, die auf meine Schläfen abgefeuert werden.
Schwärze sickert in mein Sichtfeld, frisst das Licht und drückt mich nieder. Erbarmungslose Fluten, die mich von der Kante des Bewusstseins spülen.
***
Ein schriller Ton durchdringt die Finsternis, in der ich treibe, im Crescendo und entreißt mich ihrer Umarmung. Meine Lunge zieht sich einer alten Ziehharmonika gleich zusammen, und mein Verstand stößt träge fließend immer wieder gegen Steine.
Was ist passiert?
Wann bin ich eingeschlafen?
Die Fäden der Erinnerungen zerreißen, wenn ich nach ihnen greife und versuche sie zu verknüpfen. Ein Gefühl der Benommenheit hält mich starr auf dem Untergrund gefangen, der leicht unter meinem Gewicht nachgibt. Behutsam bewege ich meine Finger, einen nach dem anderen, ein Aufatmen löst sich aus meiner Kehle, ich möchte dasselbe mit meinen Zehen tun, versuche, den Großen zu heben …
nichts.
Keine Regung.
All meine Sinne richte ich auf meinen linken Fuß aus.
Kein Zucken.
Auch der Rechte bleibt starr.
Der Atem verfängt sich in meiner Lunge, mir ist als pumpe Gift durch meine Adern. Ich spüre meine Beine nicht, fühle mich fremd in meinem eigenen Körper. Als sei er zersprungen und würde meine Seele abstoßen.
Der Schmerz des Augenblicks schnürt mir mit eisernen Fäden die Brust zu.
Ein Wimmern entringt sich meinem Mund, als ich die Augen aufschlage.
Gleißendes Licht.
Wimpernschlag.
Atemzug.
Staub in meinen Atemwegen.
Wimpernschlag.
Grellweiß, das mir in den Augen brennt.
Tapfer blinzle ich gegen die Helligkeit an. Der Geruch von Desinfektionsmittel sticht mir in die Nase, welche ich rümpfe.
Verschwommene Umrisse formen sich zu sterilen reinweißen Wänden, so abgestumpft und leer, wie ich mich fühle. Den schrillen Ton ordne ich einem Herzmonitor zu, im selben Atemzug bewegt sich die Linie darauf schneller. Meine Handflächen werden schwitzig, mein Herz klopft zum Zerspringen, die Linien sind sein Spiegel.
Ich bin …
im Krankenhaus?
Die Erkenntnis treibt mir Splitter in die Knochen, welche an einer Erinnerung schaben, die unter einer tiefen Schicht Erde begraben liegt …
»Lucie.«
Schwerfällig drehe ich den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist. Glühender Schmerz durchfährt mich, schwarze Punkte tanzen vor meinem Blick. Als er sich klärt, schaue ich in grand-mère Maries Gesicht. Kein Stern verirrt sich in der Winternacht in ihren Augen, mit zitternden Händen pfriemelt sie an ihrem samtschwarzen Kostüm. Hat sie immer so viele Falten um den Mund gehabt?
Mein Versuch, ihren Namen zu wispern, endet in einem Krächzen. Sogleich drückt sie mir einen Wasserbecher an die Lippen, kühles Nass spült das Engegefühl fort. Nachdem sie den Becher auf dem Beistelltisch abgestellt hat, streicht sie mir die Locken aus der Stirn.
Ich schmiege mich in die Berührung, das Ziehen meiner Halswirbel ignorierend. »Was ist passiert?«, meine Stimme ist zerbrechlich wie die allererste Eisschicht im Winter.
»Oh Lucie.« Sie schließt die Augen, atmet tief durch.
Meine Kehle schnürt sich zu. Nie habe ich Marie Chevalier um Fassung ringen sehen. »Bitte …«
Tränenkristalle verschleiern ihren Blick. »Ihr hattet einen Autounfall. Oliver, Emily und du. Ihr seid im Regen auf der Landstraße mit einem anderen Auto zusammengestoßen.« Sie beißt sich auf die zitternde Unterlippe. »Du bist notoperiert worden … Sie wissen nicht, ob du je wieder laufen können wirst … Oliver und Emily …« Ihr versagt die Stimme.
Ihre Worte malen erste Pinselstriche auf die Leinwand meiner Albträume – weiß auf weißem Grund für alles, was mir widerfahren ist. Es ist bedeutungslos. Tiefschwarz für Olivers und Emilys Schicksal. »Wo sind sie? Wo sind Oliver und Emily?« Ich möchte die Worte schreien, stattdessen kommt mir ein raues Flüstern über die Lippen. Die Luft im Raum wird dünner, Kälte kriecht unter das Krankenhausnachthemd und die dicke Decke, unter der ich liege.
»Emily liegt im Koma.«
Etwas in meinem Herzen zerreißt …
»Gerade ist ihr Zustand stabil.«
… aus dem Riss sprießen Ausläufer, wie in einer Eisfläche auf einem zugefrorenen See …
»Oliver …« Ihre Stimme bricht. »Monique und Thomas sprechen gerade mit dem behandelnden Arzt … Ihm ist nicht zu helfen gewesen, ma chérie, er konnte nicht wiederbelebt werden …«
… bis das Eis zersplittert.
Ich atme, doch jedes Zusammenziehen und Entkrampfen meiner Lunge fühlt sich wie ersticken an. Mir ist, als würden meine Knochen von innen heraus zerbrechen.
Ich zersplittere. In winzige Teile, die sich immer neu zusammenfügen. An die falschen Stellen. Weil ich nie wieder ganz sein werde.
In den Scherben spiegeln sich die Bilder meiner Erinnerungen, jede schneidet tiefer in mein Herz. Oliver neben mir auf dem Klavierhocker vor grand-mère Maries Flügel, nachdem ich Comptine d'un autre été fehlerfrei gespielt habe. Unsere erste Aufführung auf der Bühne im Kindergarten. Unsere Einschulung. Unser erster Besuch im Disneyland Paris. Unsere erste Aufführung mit der Musicalgruppe. Unsere Abschlussfahrt nach Edinburgh mit dem Englisch Leistungskurs. Unser achtzehnter Geburtstag letzten November. Unser Abiball. Der letzte fallende Vorhang.
Jedes Bild ist eine Flamme, die auf mich einschlägt. Das Feuer, das sich in mir ausbereitet, verbrennt eine Verbindung, die mein Leben lang da gewesen ist. Lässt mich zurück mit Ascheflocken, die wie schwarzer Schnee in einem düsteren Nichts hinabregnen.
Oliver …
Sein Name als Erinnerung auf meinen Lippen …
Sein Bild nicht länger Teil meiner Realität …
Oliver …
ist …
tot.
Ein Schleier aus Tränen gleitet über meine Augen, Salz brennt auf meinen Wangen. Das Zittern meiner Hände überträgt sich als Beben auf meinen ganzen Körper. Arme ziehen mich behutsam an einen warmen Körper, als wolle grand-mère Marie die letzten Scherben meines Selbst zusammenhalten. Ihrem blumigen Parfum haftet eine welke Note an, als hätte der Herbst den Sommer nicht nur aus meiner Welt vertrieben.
»Je suis désolée, chérie«, murmelt sie undeutlich in mein Haar. »Quelle tragédie…«
Der Rest ihrer Worte geht in dem Knarzen einer Tür unter. Die Stimmen meiner Eltern vermischen sich zu einem Dröhnen in meinem Kopf. Steinkalte Finger streichen mir durch die Locken.
Zuerst verstehe ich nicht, was Mama sagt. Dann dringen ihre Worte als flüchtiger Lichtstrahl durch den Sumpf meiner Gedanken.
»Lucie.«
Mein Name.
Immer wieder mein Name.
Wie ein Gebet.
Weil ich überlebt habe.
»Nein«, bringe ich unter Tränen heraus. Mamas Gesicht ist ein verschwommener Fleck, als würde sie hinter einer regennassen Fensterscheibe stehen, und ich bin der Regen, der ihr ihren Sohn genommen hat. Nicht mehr golden im Scheinwerferlicht, sondern grau. »Oliver hätte überleben müssen. Nicht ich. Das ist m-meine«, Schluchzer zerstückeln meine Worte, »Sch-Schuld …«
Die winterblauen Flecken, welche ich vage als Mamas Augen identifiziere, verschwimmen wie Tinte, die über einem Pergamentblatt verläuft.
Grand-mère Marie lässt mich los.
Mama nimmt mich in den Arm, unruhig hämmert ihr Herz gegen meine Wange. »Sag das nicht, Liebling.« Sie ringt um Atem, zieht sich von mir zurück, nimmt mein Gesicht in die Hände. Mit dem Daumen streicht sie mir die Tränen von den Wagen. »Nie wieder möchte ich das von dir hören. Es ist nicht deine Schuld gewesen, und auch nicht die des anderen Autofahrers. Der Regen … die Dunkelheit …«
Die nehme ich nicht wahr, die Symphonie ihrer Worte hallt tonlos durch mein ausgebranntes Inneres – sie ist leer.
Meine Miene muss spiegeln, was in mir vorgeht. Dass mit jeder Sekunde, in der ich atme, aber Oliver nicht, mehr Stücke aus mir herausbrechen und zu Asche verbrennen, die im Wind davonwirbelt. Mama stößt ein ersticktes Schluchzen aus, ehe sie mich an sich zieht. In dem Versuch, mich zusammenzuhalten, obwohl zerbrochene Dinge nie wieder ganz werden – die Risse bleiben.
»Sie dürfen sie nicht aufregen, Frau Chevalier.«
»Meine Frau weiß, was sie tut.« Papas Stimme ist farblos. »Lucie braucht jeden Halt, den sie bekommen kann. Wir brauchen einander. Als Familie.«
Familie – ein Wort ohne Bedeutung.
Oliver – ein Name ohne Gesicht.
Lieder ohne Noten.
Wie der Missklang der Silben meines Namens.
Lucie … Wer ist Lucie? Nicht mehr die Person, die im Flutlicht badend auf der Bühne gestanden hat.
Mama scheint dasselbe zu denken. Sie bemüht sich nicht mehr um beruhigende Worte, sondern hält mich fest, während ich in einem düsteren Brunnenschacht sitze. Wohlwissend, dass mir kein Licht den Weg nach oben zeigen wird.
Ein Schnitt teilt mein Leben in Davor und Danach.
Davor haben Oliver und ich Seite an Seite auf der Bühne gestanden.
Für die Lucie danach ist der letzte Vorhang gefallen.
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